"Müssen die nicht ins Bett?", fragt unsere Tochter besorgt und schaut aus dem Fenster. Selbst schon im Schlafanzug, betrachtet die Dreijährige verwundert die Massen verkleideter Kinder und Erwachsener, die am Vorabend des zweiten Advents in der Dunkelheit an dem zentral in der Altstadt gelegenen Gebäude der Lutherischen Gemeinde Genf vorbeilaufen. Manche rennen sogar. Die Genfer begehen ihr Stadtfest: die Escalade. Sie erinnert an die Nacht vom 11. auf den 12. Dezember 1602, in der die Stadt von savoyischen Soldaten angegriffen wurde. Sie versuchten, über die Mauern zu steigen - daher rührt der Name Escalade, der übersetzt Kletterei bedeutet.
Katrin Hildenbrand
Die Legende weiß zu berichten, dass die Genfer ihre Stadt mit Heldenmut verteidigten. Insbesondere erinnert man sich an "Mère Royaume", eine tapfere Frau namens Catherine Royaume, die aus dem Fenster den Inhalt ihres vollen Suppentopfes über dem Kopf eines Savoyarden ausgoss.
Zwischen Verkleidung, Stadtlauf und wochenlanger Vorbereitung
Am dritten Adventswochenende findet ein großer Umzug in Kostümen der damaligen Zeit statt, mit Fackeln und Herolden, die historische Texte vom Pferd herab proklamieren: Man wähnt sich wahrlich ins 17. Jahrhundert versetzt! Die historische und patriotische Vereinigung "La Compagnie de 1602", deren vornehmlicher Daseinszweck die Organisation dieses Umzugs ist, zählt 2200 Mitglieder.
Am Wochenende vorher findet der "Course de l’Escalade" statt, ein Stadtlauf, an dem 2022 trotz eisiger Kälte 45 000 Menschen teilnahmen. Sie können sich in verschiedenen Kategorien messen, vom Profikampf bis zum Jedermannslauf. Schon Wochen vorher werden die Gassen der Altstadt von den Trainierenden geflutet. Ein Fest für Fitnesstrainer! In der Genfer Welt von Performern und High Potentials leisten sich viele einen Personal Trainer, um sich bestmöglich vorzubereiten. "Ganze Rudel" seien nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs und hörten auf die Ratschläge der "Halbgötter bei der Arbeit", ätzte die Tageszeitung Tribune de Genève. Das für uns mit Abstand lustigste Event: der abendliche Marmite-Lauf, bei dem keine Zeit gemessen wird, sondern es ganz olympisch nur ums Dabeisein geht. Die beste Verkleidung wird prämiert.
Süßes aus dem Topf
Namensgebend ist hier der bereits erwähnte Suppentopf: In dankbarer Erinnerung an Mère Royaume will die Tradition, dass man in der Familie oder unter Freunden die Marmite, den berühmten Schokoladentopf, zerschlägt und die gute Schokolade zusammen mit kleinen Marzipanleckereien in Gemüseform verzehrt, die sich im Topf befinden. Dazu wird gerufen: "Et qu’ainsi périssent les ennemis de la république!" (Mögen die Feinde der Republik untergehen!) Dem ist aus Genfer Sicht rein gar nichts mehr hinzuzufügen.