„In der Stille der Nacht hört man Klagen, Angst- und Schmerzensschreie, herzzerreißende Hilferufe... Die ersten Sonnenstrahlen des 25. Juni beleuchteten eines der furchtbarsten Schauspiele, das sich dem Auge darzubieten vermag. Überall war das Schlachtfeld mit Menschen- und Pferdeleichen bedeckt.“ So beschreibt der Schweizer Henry Dunant den Juni 1859.
Er hatte Schreckliches erlebt. Er war, als er Napoleon III. ein Schreiben überbringen wollte, in die Gefechte der französischen und österreichischen Armeen nahe der italienischen Stadt Solferino geraten. Die Schlacht gilt als eine der blutigsten des Jahrhunderts.
Dunant ist erschüttert: Viele Opfer werden nicht richtig betreut, denn die wenigen Ärzte weigern sich, verletzte Soldaten der gegnerischen Seite zu versorgen. Es fehlt an Verbandsmaterial, an Hygiene, an Helfern. Mit dem Ausruf „Tutti fratelli!“, „Alle sind Brüder!“, organisiert Dunant Hilfstrupps – ohne Unterscheidung von Freund oder Feind, Herkunft oder Religion, das ist der Gedanke, der ihn bewegt. Eine Haltung, mit der Dunant seiner Zeit voraus ist. Die Idee, freiwillig und unter neutraler Flagge Erste Hilfe zu leisten, war in diesem Moment geboren.
Jean-Henri Dunant kam 1828 in Genf zur Welt. Er wächst in einer fromm-calvinistischen, wohlhabenden Kaufmannsfamilie auf. Die Eltern engagieren sich stark für Bedürftige. Die fünf Kinder kennen keine Berührungsängste gegenüber anderen sozialen Schichten. Henry wird früh aktiv: Er setzt sich als Jugendlicher in der Genfer Almosengesellschaft für Bedürftige ein, liest in den Gefängnissen der Stadt Sträflingen aus Reise- und Geschichtsbüchern sowie aus der Bibel vor und trifft sich mit Freunden regelmäßig zum Bibelstudium – ein Kreis, aus dem später der Christliche Verein Junger Männer (CVJM) entsteht. 1849 beginnt Henry Dunant, bei einer Genfer Bank zu arbeiten, die ihn für ein Tochterunternehmen nach Algerien schickt, wo er später eine Mühlengesellschaft aufzubauen versucht.
Staat und Kirche: "Quelle aller Knechtschaft"
Geschäftlich reist er 1859 nach Italien, und was er auf dem Schlachtfeld von Solferino sieht, lässt ihn nicht mehr los. Dunant fordert verbindliche Regeln für die Kriegsführung, um weiteres Leid zu verhindern. Er hält seine Eindrücke in „Eine Erinnerung an Solferino“ fest, produziert das Buch 1862 auf eigene Kosten, verschickt es in ganz Europa. Dunant findet Unterstützer: 1863 wird das „Internationale Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege“ gegründet, später wird es umbenannt in „Internationales Komitee vom Roten Kreuz“. Sein Erkennungszeichen: das rote Kreuz auf weißem Grund – die farblich umgekehrte Schweizer Nationalflagge. Im darauffolgenden Jahr unterzeichnen zwölf europäische Staaten die erste Genfer Konvention, das erste internationale humanitäre Abkommen. Die Länder verpflichten sich dazu, im Krieg keine Verwundeten, Sanitäter oder Lazarette anzugreifen.
Wirtschaftlich läuft es für Dunant nicht gut: Für die Geschäfte in Algerien bleibt kaum Zeit, Unruhen vor Ort erschweren die Arbeit, 1867 muss die Mühlengesellschaft Konkurs anmelden. Dunant verwickelt sich in Spekulationen, verschuldet sich. Wegen Unstimmigkeiten wird er auch aus dem Internationalen Komitee ausgeschlossen. Er verarmt, lebt auf der Suche nach einer beruflichen Zukunft mal in Paris, mal in London, dann in Stuttgart und Basel. Er leidet unter Verfolgungsängsten. Massiv kritisiert er Staat und Kirche als „Quelle aller Knechtschaft“.
Doch er ist es, auf den später die Wahl des Nobelpreiskomitees fällt: Gemeinsam mit dem französischen Pazifisten Frédéric Passy erhält Henry Dunant 1901 den ersten Friedensnobelpreis, Bertha von Suttner hatte ihn vorgeschlagen. Eine große Genugtuung für ihn, der in Vergessenheit zu geraten schien. Die Auszeichnung wurde allerdings vor allem seitens der Friedensbewegung kritisiert: Schließlich setzen das Rote Kreuz und die Genfer Konventionen Krieg voraus, statt ihn zu beseitigen.
Henry Dunant stirbt 1910 im schweizerischen Heiden, wo er seit 1887 lebte. Mit seinem humanitären Engagement hat er den Grundstein für das heutige Völkerrecht gelegt, das Rote Kreuz ist inzwischen eine der größten internationalen Hilfsorganisationen.