Der öffentliche Personenverkehr hat keinen guten Ruf. Und ich muss sagen: Er macht es den Leuten nicht leicht. Neulich hat es uns so richtig gerissen, da steckten wir an einem Samstagabend zwischen Frankfurt und Mainz – "Metropolregion Rhein-Main"! – fünf Stunden in verschiedenen Bahnen fest: eine Akkumulation von Personalmangel, Stellwerksproblemen und dem Besucheraufkommen bei einem Rockkonzert im Stadion.
Sabine Horst
Die deutsche Bahn hat in den vergangenen 70 Jahren 15.000 Streckenkilometer stillgelegt; einer aktuellen Studie zufolge haben 55 Millionen Bundesbürger keinen ausreichenden Zugang zu öffentlichen Nahverkehrsmitteln. Auch beim Komfort hapert es gewaltig. Unterhalb des ICE-Niveaus knirschen die Züge; Stationen vergammeln, es mieft, die Sitze kleben, wer mit Kinderwagen oder Rollstuhl unterwegs ist, hat sowieso verloren …
Und dabei ist Bahnfahren noch nicht mal mit dem heroischen Nimbus verbunden, den ein hippes Lasten- oder E-Bike dem Verkehrsteilnehmer verleiht. Wer sich morgens schwer atmend im Büro den Fahrradhelm vom Kopf reißt, gilt als sportlich und umweltbewusst. Fürs halb paralysierte Rumhängen in einem übervollen Bus, der nur jede Stunde fährt und durch sechs Dörfer in die Stadt zockelt, gibt es keine Medaille.
Dabei könnte es so schön sein. Das Massentransportmittel ist eine der großen Errungenschaften der Menschheit – erfunden im neunzehnten Jahrhundert, war es ein Movens der Industrialisierung, unverzichtbar für die Aufrechterhaltung modernen Handels und Wandels. Das wussten schon die Impressionisten, die fast alle ein paar Eisenbahnmotive zwischen ihre Blumen und Berge geschmuggelt haben, und die Architekten, die frühe U-Bahnstationen wie Paläste dekorierten. Die angeblich erste Filmvorführung in den 1890ern, von den Brüdern Lumière, zeigte die Einfahrt eines Zugs in den Bahnhof La Ciotat, eine Sensation. Im klassischen Hollywoodfilm war das Reisen in einem Zug mit Schlaf- und Speisewagen ein schönes Privileg. Später verdüsterte sich das Bild: Kriminelle jeder Couleur – wie gerade wieder in "Bullet Train" mit Brad Pitt - und sogar Zombies enterten U-Bahnen und Schnellzüge. Aber immer gibt es in der Bahn, diesem Mikrokosmos der Gesellschaft, was zu sehen, immer kann man im ÖPNV was erleben.
In der Londoner "Tube" fühlt man sich umsorgt
Ich habe einen großen Teil meiner Schulzeit auf dem Weg zur nächsten Kreisstadt im Bus verbracht. Es war ein Ort des Lernens ("Scheiße, welche Seite Vokabeln noch mal?" ) und des Streitens, des Spiels, der Freundschaft und des Flirts ("Geht Udo jetzt mit Marion?"). In die U-Bahn habe ich mich auf einer London-Reise verguckt. Schon der Sound der traditionsreichen "Tube" ist verführerisch geschmeidig. Zosch, quietsch, Tür auf, Tür zu, zosch … Hey, läuft wie geschmiert, bis zu fünf Millionen Passagiere befördert die Underground täglich durch den Großraum London. Mit einem Oyster-Pass, der auch das fantastisch filigrane Busnetz und die Themse-Boote abdeckt, landet der User punktgenau. Und er muss keine Fahrpläne mit Endstationen und Zwischenstopps auswendig lernen - okay, Möckernbrücke liegt von hier aus im Westen, aber ist das jetzt Krumme Lanke oder Warschauer Straße? -, bevor er in die Unterwelt absteigt. In der "Tube" wird der Fahrgast an jeder Wegkreuzung präzise informiert. Da fühlt man sich umsorgt.
Die Londoner haben die Modernisierung zentraler Linien angekündigt: 250 Hightech-Züge und rundum überholte Stationen mit gesicherten, verglasten Gleisen. Kein Wunder, dass die sich eine Citymaut leisten können.
Der Individualverkehr wird das Problem nicht lösen
Wenn wir die Autos aus der Stadt holen, die Autobahnen von geschlossenen Lkw-Decken befreien und künftig schnell große Strecken zurücklegen wollen – dann müssen wir die Öffentlichen, den Massenbetrieb, die Bahn fördern. Keine Form von Individualverkehr wird das Problem lösen. Jedenfalls nicht in Riesenstädten wie, sagen wir Tokio, wo allein aus der Nachbarpräfektur Saitama täglich 930.000 Pendler einfallen – mehr als die Hunnen, die Europa mit 700.000 Leuten beherrscht haben sollen.
Ein bisschen wie diese furchterregenden Horden könnten sich die Deutschen gefühlt haben, die nach der Erstauslieferung des 9-Euro-Tickets nicht etwa zum Job, sondern ins Wochenende aufgebrochen sind und in den Medien Panik ausgelöst haben: Billigfahrer in Sylt, der Horror. Aber es muss auch ein Recht auf Beförderung geben, das über den wirtschaftserhaltenden Kreislauf Arbeit – Shoppen – Schlafen – hinausgeht. Einen Personenverkehr, der für jeden zugänglich ist, nicht mieft und einen Azubi oder eine fünfköpfige Familie nicht vor die Frage stellt, ob die Fahrt zum Kino in dieser Woche noch drin ist. Bahn frei für den Hunnen in jedem von uns.