Interview - Der Kummer muss raus
Interview - Der Kummer muss raus
Bernd Wüstneck / picture alliance / dpa
Umarmung: unmöglich
Gottesdienst, Plätzchenduft – und viel Traurigkeit. Die Pfarrerin Kirsten Fricke weiß, wie es Häftlingen in der Weihnachtszeit geht.
Karina ScholzPrivat
26.11.2020

chrismon: Frau Fricke, wie ist die Stimmung im Gefängnis, wenn es auf Weihnachten zugeht? 

Kirsten Fricke: Man spürt eine große Traurigkeit, gerade bei den Männern, die Väter sind. Eigentlich schon ab Ende November. Wenn es regnet, gehen viele nicht mehr in die Freistunde, das heißt, sie kommen den ganzen Tag nicht raus. Manche sind auch ganz euphorisch und fangen an zu backen. Wenn ich dann auf die Station komme, rieche ich Plätzchenduft. An Weihnachten schwenkt die Stimmung eher um ins Nachdenkliche. 

Auch im Gefängnis müssen wegen Corona die Kontakte beschränkt werden. Wie wirkt sich das aus?

Die Männer dürfen zwar wieder Besuch bekommen, müssen aber hinter der Trennscheibe sitzen bleiben. Da verzichten viele ganz darauf. Sie sagen: ‚Wenn ich meine Frau und meine Kinder nicht anfassen kann, sehe ich sie lieber gar nicht.‘ Wo es möglich ist, weichen einige auf Videoanrufe aus. Aber auch da fehlt etwas. Wir bekommen mehr Anfragen für die Einzelseelsorge.

Karina ScholzPrivat

Karina Scholz

Karina Scholz ist freie Autorin.

Kirsten Fricke

Kirsten Fricke ist Pastorin, Beauftragte für Gefängnisseelsorge in der Evangelischen Landeskirche Hannovers und arbeitet in der Justizvollzugsanstalt Sehnde. Zusammen mit zwei Kollegen ist die Seelsorgerin dort für mehr als 500 inhaftierte Männer ansprechbar, das heißt, sie führt unter anderem Einzel- und Gruppengespräche, hält Gottesdienste, es gibt einen Bibelkreis oder Hilfen zur Reintegration und Resozialisierung.

Worum geht es bei diesen Einzelgesprächen?

Die meisten fragen sich: ‚Wie schaffe ich es, in gutem Kontakt mit meiner Familie zu bleiben?‘ Da kann ich im praktischen Sinn gar nicht helfen. Aber ich kann zuhören. Manchmal überlegen wir zusammen, welche Möglichkeiten es gibt. Das ist natürlich bei Männern, die nicht lesen und schreiben können, stark eingeschränkt. Ich bin immer wieder verwundert, wie viele Analphabeten wir haben.

Die Männer basteln Geschenke für ihre Familien

Wie sieht Ihre Vorbereitung auf Weihnachten aus?

Seit einigen Jahren basteln wir gemeinsam Adventskalender oder Laternen, damit die Männer auch mal ein Geschenk für ihre Familien haben. Das wurde immer richtig gut angenommen. In diesem Jahr darf ich wegen der Corona-Beschränkungen in einem riesigen Raum mit nur acht Männern sitzen. Alles muss vorher desinfiziert und vom Hygienebeauftragten durchgeguckt werden. Zudem haben sich nur drei Männer angemeldet, das ist richtig untypisch. Immerhin: Sie tauschen sich aus. Und beim Schneiden und Kleben helfen sie einander manchmal, was im Knast selten vorkommt. Manch einer sagt: ‚Ich habe noch nie in meinem Leben etwas fertig bekommen.‘ Dann sage ich: ‚Diese Laterne, die kriegen Sie jetzt fertig.‘

Was können Sie den Gefangenen an diesem Weihnachtsfest mitgeben?

Wir können wahrscheinlich nicht wie gewohnt einen großen Weihnachtsgottesdienst feiern. Ich glaube aber, dass die Weihnachtsgeschichte in diesem Jahr besonders viel Kraft hat. Wenn wir das Evangelium lesen und es kommt der Engel, der sagt: ‚Fürchtet euch nicht!‘ – das ist ein ganz starker Satz. Manch einer fängt dabei an zu weinen. Weil wir auch viele Männer im Gottesdienst haben, die kein Deutsch sprechen, lassen wir die Weihnachtsbotschaft des Engels in unterschiedlichen Sprachen vorlesen.

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