Dienstagabend: Mit einem Ruck ziehe ich die schwere Eisentür ins Schloss und sehe an unserer Kirche hoch. Die St.-Pauls-Kirche in Chelsea steht seit 1898 wie ein Fels in der Brandung, sie wird wohl auch diese Präsidentschaftswahl überstehen...
Wir haben ein Friedensgebet in St. Pauls gefeiert. Denn wenn meine gegenwärtige Wahlheimat eines braucht, dann ist es Frieden. Es waren schwere Monate, die Vereinigten Staaten von Amerika sind so geteilt wie niemals zuvor. Unsere kleine deutschsprachige Gemeinde versucht, Brücken zu bauen, auf denen Menschen sich trotz aller Unterschiede begegnen und in der Sorge um den bedürftigen Nächsten finden können.
Miriam Groß
Die Worte eines Gebetes sprachen mir in der Kirche aus tiefster Seele: "Zeige uns deine Wege, dass wir als Friedenstifter in dieser Welt tätig sind und mache uns gewiss, dass uns nichts, weder Tod noch Leben, weder Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges trennen kann von deiner Liebe, die in Jesus, unserem Bruder und Herrn für immer in dieser Welt erschienen ist." Diese Hoffnung erfüllt mich, während ich mir Gedanken um den Ausgang der Wahl mache.
Polizisten in Alarmstimmung
Vor dem Friedensgebet hatte ich unsere örtliche Polizeistation besucht und den Polizisten selbst gebackene Muffins gebracht - als kleine Stärkung für die lange Nacht. Die Anspannung war zum Greifen nah. Ein befreundeter Polizist nahm die Backwaren dankbar entgegen. "Die können wir gut gebrauchen!", sagte er, während er sie im Pausenraum auf einem Tisch abstellte. "Je nachdem, wie die Nacht verläuft, brauchen wir alle Stärkung. Gewinnt Trump, werden wir große Unruhen erleben."
Ich schlucke schwer, während ich mich immer noch an der schweren Eisentür der Kirche festhalte. Mein Blick schweift über die hell erleuchtete Skyline. Ein Helikopter steht fast unbeweglich über einem nahe gelegenen Wolkenkratzer. Der Lärm seiner Rotorblätter tönt auf die Stadt herab. Ein Vorbote dessen, was New York und den USA an Unruhen bevorsteht? Mit gemischten Gefühlen mache ich mich auf den Nachhauseweg…
Bitteres Erwachen?
Inzwischen ist es fast Mitternacht. Ein klarer Wahlausgang ist immer noch nicht abzusehen. Doch ich fürchte, dass der morgige Tag ein bitteres Erwachen mit sich bringen wird, das mich an die Wahl vor vier Jahren erinnert. Wie damals kann ich dann wohl nur seufzend feststellen, was der Jesus einst in seinen Worten über die Feindesliebe sagte: "Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte" (Matthäus 5,45).