"Kaum bin ich mal ein paar Wochen weg, explodiert bei euch alles", habe ich vorgestern meinem Vertreter gegenüber gemault. Es ist reine Hilflosigkeit, weil ich noch gar nicht recht glauben und in Worte fassen kann, was da passiert ist. Moria, wie wir es kannten und wie es die letzten beiden Jahre meines Lebens bestimmt hat, ist nicht mehr. Mit dem Brand am 8. September ist unsere Arbeit von vier Jahren, sind Zehntausende Euro, mit denen wir Moria wenigstens ansatzweise wohnlich zu machen versuchten, in Flammen aufgegangen.
Schwarzgraue Geisterstadt
Die Bilder des abgebrannten Lagers trafen mich völlig unvorbereitet auf Whatsapp. Ich kann sie kaum ansehen. Das dort war wohl mal unser Infopoint und Bürocontainer. Hier stand das Zelt von Youssef aus Syrien, der bei einer der letzten Campunruhen für mich übersetzt hat. Die Marktstände am Moria-Hügel … der aus Paletten gebaute, zweistöckige Friseursalon … der Kaffeestand hinter unserer Windelausgabe, dessen afghanischer Inhaber von unseren Helfern nie Geld für den besten Cappuccino des Camps nahm … alles weg. Das ganze Gelände, das sonst vom bunten, lebendigen Gewusel der Menschen aus rund 60 ethnischen Gruppen bestimmt war - und oh, der vielen, vielen Kinder! -, ist auf den Bildern eine schwarzgraue, leblose Geisterstadt.
Neue Brände nach dem großen Feuer haben auch die letzten Behausungen unbewohnbar gemacht. Fast 13 000 Menschen sind obdachlos. "Moria finish, my friend!", hörte meine Kollegin von ein paar versprengten Bewohnern, die in den Trümmern nach Verwertbarem suchten.
Die Leute haben Hunger
Vor Ort, das kriege ich mit, sortiert sich alles neu. Die Arbeit meiner Kollegen verlagert sich an die Straßenränder und auf die Parkplätze, an denen die aus dem Lager geflüchteten Geflüchteten nun auf Hilfe warten. Über Lesbos ist der Ausnahmezustand verhängt worden, es gibt Straßensperren der Polizei, bedrohliche Ansammlungen von Rechten und Demonstrationen der Evakuierten, die jederzeit in Gewalt ausarten können. Die Leute haben Hunger. Essensausgaben werden beendet, weil die Lage für die Helfer nicht sicher genug ist. Letzte Nacht, so heißt es, hat eine Frau auf dem Lidl-Parkplatz auf einer Plastikplane ihr Kind entbunden. Und ich kann nicht dort sein.
Es zerreißt mich
Meine eine Herzhälfte sagt: Sofort zurück nach Lesbos! Die andere: Du brauchst deine Pause nach einem halben Jahr Dauerkrise! Und der deutsche Staat, dem meine Herzhälften egal sind, sagt: Nach zwei Jahren im Ausland muss ein entsandter Arbeitnehmer zwei Monate in Deutschland verbringen, bevor er wieder ausreisen darf. Damit steht fest: Bis Anfang November werde ich die Situation auf Lesbos allenfalls aus der Ferne begleiten. Ich will mich über die Zwangspause freuen.
Auf mein Team kann ich mich verlassen - viele von ihnen sind gerade aus ihren längeren Pausen zurückgekehrt und haben die nötige Frische für die erneute Krise - und ich versuche mich damit zu trösten, dass ich immerhin ein bisschen Medienarbeit machen und Hintergrundinformationen zu dem geben kann, das einmal Moria gewesen ist. Es schafft eine gewisse Verbundenheit mit der Arbeit vor Ort, aber gleichzeitig zerreißt es mich umso mehr, nicht bei meinen Leuten zu sein.
Nach dem katastrophalen Brand im Flüchtlingslager Moria haben die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) sowie die Diakonie Hessen zum Spenden für Betroffene auf der griechischen Insel Lesbos aufgerufen.
Die Spenden gehen an die Initiative Lesvossolidarity, die in ihrem Camp "Pikpa" auf Lesbos einen Notfallplan erstellt hat, um Minderjährige und Mütter mit Säuglingen aufzunehmen.
Mehr Infos zur Spendensammlung auf der Homepage der EKHN.
Spendenkonto:
EKHN
IBAN DE27 5206 0410 0004 1000 00
Betreff: Spende Lesbos