Ein schöner Tag. Die Sonne scheint. Wenn ich jetzt, unter meinem Sonnenschirm liegend, den neuen Krimi lesen könnte, wäre das optimal. Aber ohne Sonnenhut und -brille in einer endlosen Schlange von maskierten Menschen vor der Apotheke ausharren zu müssen, ist kein Vergnügen. Barbara und Anna, die beiden Frauen vor mir, erleben es offenbar ganz anders.
Natürlich sind sie anständig und halten Abstand. Und dennoch gelingt es ihnen, sich fröhlich zu unterhalten. Die Distanz zwischen Ohren und Mündern sorgt jedoch dafür, dass ihre Nächsten den Dialog in theaterreifer Lautstärke miterleben dürfen.
Arnd Brummer
"Ich fand es erst mal super, im Homeoffice zu arbeiten. Keine Fahrt mit der Straßenbahn, kein stressiges Großraumbüro. Und locker in Jeans und T-Shirt vor dem Notebook sitzen", schwärmt die blau Maskierte vor mir. "Genau, Anna!", schrillt es ihr aus rosaroter Baumwolle entgegen. "Ich fand es richtig toll, mittags mit meinen Kids zu essen, statt in der muffigen Kantine mit maulfaulen Kerlen lauwarme Suppe zu löffeln."
Anna schüttelt sacht den Kopf. Dann ruft sie: "Das kenn’ ich! So ging’s mir in der ersten Woche auch. Inzwischen nervt es mich aber dermaßen, was meine beiden Kinder treiben. Ich sitze in einer Videokonferenz und versuche, mich zu konzentrieren. Und nebenan randalieren die Jungs beim PC-Gaming in Gewitterlautstärke. Als ich sie gestern aufforderte, Headsets zu tragen, brüllten sie: ‚Wir wollen unser Spiel wie live im Stadion erleben!‘"
"Videokonferenzen sind eine Zumutung"
Die Wirkung der Pandemie auf unsere Alltagskultur ist ambivalent, hat wie jede Veränderung zwei Seiten. Dass in Unternehmen und Verwaltungen darüber beraten wird, Homeoffice zur normalen Form der Arbeit zu machen, mag der technologischen und ökonomischen Entwicklung entsprechen. Für die Beschäftigten wäre es zudem ein Gewinn, ihre berufliche und private Existenz zusammenzuführen, lautet ein weiteres Argument.
Die andere Seite erläutert Barbara im Bühnendialog vor der Apotheke. "Videokonferenzen sind auch ohne gamende Jungs eine Zumutung. Alle sitzen allein vor dem Bildschirm. Ich kann nicht wie im Konferenzraum meinem Nachbarn zuflüstern, dass ich den Monolog des Kollegen XY für viel zu lang und inhaltsarm halte."
Annas Antwort: "Noch schlimmer ist es, wenn man an einem Arbeitstag nicht mal kurz ins Nachbarbüro gehen kann. Wie oft habe ich das gemacht, weil ich mal – ganz inoffiziell – einen Rat brauchte, ein nettes Wort, ja einen kleinen Witz hören wollte."
Geistig und seelisch Nähe in Zeiten der Distanz
So hat auch die Schlange vor der Apotheke für mich zwei Seiten. Das laute Sprechen von Barbara und Anna habe ich zunächst als vollautomatische Nervensäge empfunden. Doch dann fühlte ich geistig und seelisch Nähe in Zeiten der Distanz.
Als Barbara die Türklinke drückte, fasste ich mir ein Herz und dankte den beiden für ihr Gespräch. "Das ist doch ein Witz! Oder?", schnaubt Anna. "Nein, das ist mein Ernst", antworte ich. "Schön", reagiert sie, "dann lassen sie uns mal miteinander quatschen, wenn wir hier wieder so rumstehen müssen." Schade, dass sie mein maskiertes Lächeln nicht sehen kann.
Sehr geehrte Damen und
Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Corona-Pandemie hat uns voll im Griff, stellt uns vor enorme Herausforderungen, bringt viele an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit. Aber selbst in dieser Zeit gibt es auch etwas Positives. So fördert die Krise trotz des Erfordernisses, räumlichen Abstand zu halten, das einander Näherkommen. Man hilft und tröstet sich, nimmt mehr Anteil an Sorgen und Ängsten, kommuniziert intensiver miteinander, lässt sich auch durch Masken nicht davon abhalten. Vieles wird stärker anerkannt, geschätzt und gelobt, was selbstverständlich geworden war.
Mit freundlichen Grüßen
Gabriele Gottbrath
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