Europäischer Alltag, so hoffen es besonders Leute an der Saar, am Bodensee, in Jütland oder im Bayerischen Wald, werde bald wieder selbstverständlich sein. Zur Arbeit, zum Einkaufen oder zum Abendessen schnell mal über Grenzen, die keine mehr sind. Daran haben sich die Deutschen und ihre Nachbarn in den letzten Jahren so sehr gewöhnt, als sei das schon immer normal gewesen. Dass der sogenannte Schengen-Raum erst 1995 in der Europäischen Union Realität wurde und viele Staaten erst nach der Jahrtausendwende Grenzkontrollen abschafften, lässt auch meine Nachbarin Rita stutzen: "Ja stimmt! Das war mal ganz anders."
Arnd Brummer
Rita wuchs an der Saar auf. Ihr Ehemann Ferdy stammt aus dem polnischen Zgorzelec an der Neiße, das auf Deutsch Neu-Görlitz heißt und sich mit Görlitz jenseits des nicht einmal 50 Meter breiten Flusses seit 1998 "Europastadt" nennt. An der Neiße wie an der Saar war friedlich freundschaftliche Nachbarschaft in der langen Geschichte oft nicht möglich. Die deutschen Herrscher stritten sich dort mit Franzosen, Polen oder Dänen um Macht, Land und wirtschaftliche Zentren wie Bergwerke, Städte, Flüsse und Wälder.
Während wir über die wegen der Pandemie verhängten Sperren plaudern, erzählt Ferdy, wie es war, als er in Zgorzelec aufwuchs. "Ich bin 1970 geboren. Als Kind erlebte ich die acht Jahre, in denen es möglich war, ohne Pass und Visum hin und her über die Neiße zu gehen. Die Regierungen hatten es so vereinbart." Im Jahr 1980 ließ das Ostberliner SED-Regime die Grenze jedoch wieder schließen. Ihre Angst vor der in Polen wirkenden Solidarnosc-Bewegung war zu groß.
Nachbarschaft bestätigte auch in den Corona-Wochen nicht immer grenzfreie Freundschaft. Als bestimmte Übergänge zwischen dem Saarland und Lothringen wenigstens für Pendler wieder passierbar wurden, kam es mancherorts zu heftigen Hasstiraden. Vor Läden und Betrieben wurden Franzosen als "schmutzige Einschlepper" des Coronavirus beschimpft und ihre Autos mit Eiern beworfen. "Mag sein", meinte Rita, "Idioten gibt es überall. Aber bedeutende Saarländer wie Außenminister Heiko Maas verurteilten das sofort. Und die meisten Leute in unserer Gegend fanden das klasse."
In Zeiten wie diesen gibt es immer etwas zu lernen
Offene Grenzen habe ich mir, aufgewachsen in Konstanz am Bodensee, immer gewünscht. Unsere Kulturmetropole hieß "Züri" oder hochdeutsch Zürich. Und mit den schwäbischen Nachbarn jenseits des Sees verband uns weniger als mit denen aus dem Thurgau, aus Zürich oder St. Gallen.
Nach dem Beitritt der Schweiz zu "Schengen" und der Grenzöffnung 2008/09 begann die Bevölkerung, hin und her zu wirbeln, und zwar nicht nur zum Einkaufen. So zog eine junge Verwandte aus Konstanz wegen ihres Jobs in ein Dörfchen im Thurgau. Was sie in diesen pandemischen Wochen sehr ärgerte: Sie durfte ihre Mutter nicht besuchen, bis dies vor sechs Wochen wenigstens mit Passkontrolle und einem "Selbstauskunft" genannten Formular wieder erlaubt wurde.
In Zeiten wie diesen gibt es immer etwas zu lernen. Auch hinsichtlich der Grenzen. Wer sich an Einheit in Vielfalt gewöhnt hatte, erlebte, wie labil – politisch wie emotional – die sogenannten Realitäten sind.