Den Mittwoch mögen Finn, Runa und Leif am liebsten, mittwochs ist "Projekttag". Die Geschwister dürfen sich dann ein Thema aussuchen, mit dem sie sich am Vormittag zu Hause beschäftigen. Denn Finn, 11, Runa, 9, und Leif, 7, werden von ihren Eltern unterrichtet. Für die W.s ist das aber nicht wie in vielen anderen Familien eine Folge von Schulschließungen und Corona, sondern seit dreieinhalb Jahren Alltag. Die Eltern sagen: Die Kinder wollen es so. Und die Eltern verstoßen lieber gegen die gesetzliche Schulpflicht, als ihren Kindern etwas aufzuzwingen.
Elisabeth Hussendörfer
Andreas Reeg
Leif sitzt mit Runa am großen Holztisch im Esszimmer und beschäftigt sich mit schwarzen Löchern. "Was sind Lichtjahre?", "Ist der Weltraum unendlich?", hat er sich auf ein Blatt notiert. Finn möchte mehr über Tornados wissen, "ich geh dann mal rüber in die PC-Ecke und google". Runa hat Modelliermasse vor sich liegen, um daraus Möbel, Kleidung und Accessoires für ihre Playmobil-Figuren zu formen. "Auch etwas zu modellieren ist lernen", sagt Mutter Kerstin W. In der Schule heiße das "Werken und Gestalten".
Die Kinder sollen selbst entscheiden
Die drei können sich fürs Lernen im offenen Wohn- und Esszimmer aufhalten oder sich in ihre Zimmer zurückziehen. "Wenn sie eine Frage haben oder etwas abgeschlossen haben, das sie mir zeigen wollen, kommen sie zu mir", sagt Kerstin W. Montag und Dienstag arbeiten sie mit Online-Lernprogrammen auf ihren Tablets, Donnerstag und Freitag mit Heften und Büchern. "Von neun bis zwölf", sagt Kerstin W., "das genügt."
In den Wohnzimmerregalen stapeln sich Bücher und Lernhefte für verschiedene Altersgruppen, Hörbücher, Bildbände, Lernspiele, DVDs, CDs. Die W.s helfen damit jetzt auch den Nachbarn aus, deren Kinder wegen Corona nicht mehr in die Schule gehen. "Mit den schwarzen Löchern mache ich lieber morgen
weiter", sagt Leif und greift sich die "Rechenmeister bis 100, ab 2. Klasse". Zum Heft gehört ein Spiel mit Legeplättchen. Der Siebenjährige streift sich das lange Haar aus dem Gesicht und beginnt, die Aufgaben zu lösen. Anhand von Mustern kontrolliert er, ob die Antworten richtig sind. Er lächelt. Heute läuft es gut. "Ein Kind zu Mathe zu zwingen, wäre mir fremd", sagt Kerstin W. Sie mache nie Vorgaben, gebe nur Anregungen. "Die Kinder sollen selbst entscheiden. Solange sie motiviert sind, klappt das gut."
Man muss es sich leisten können
Die Kinder, die in Deutschland dauerhaft nicht zur Schule gehen, tauchen in keiner Statistik auf. Das für die W.s zuständige Schulamt in Aschaffenburg will sich dazu nicht äußern. ",Freilerner‘ spielen in Bayern keine große Rolle", schreibt die Sprecherin des bayerischen Kultusministeriums auf Anfrage und verweist auf die rechtliche Lage: "Die Pflege und Erziehung der Kinder sowohl nach Artikel 6 des Grundgesetzes als auch nach Artikel 126 der Bayerischen Verfassung ist das natürliche Recht der Eltern." Es gelte jedoch nicht uneingeschränkt. "Auch der Staat hat einen Bildungsauftrag. Ihm obliegt die Pflicht, den Kindern Wissen und Können zu vermitteln. . . . Zur Wahrnehmung dieses Bildungsauftrags existiert in Deutschland die allgemeine Schulpflicht." Das sogenannte Homeschooling sei "nicht zulässig".
Anruf bei Ilka Hoffmann vom Hauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): "Wir glauben, dass Homeschooler in Deutschland Ausnahmefälle sind. Bei einem Teil handelt es sich um fundamentalistische religiöse Familien, die die Evolutionstheorie und den Sexualkundeunterricht ablehnen." Andere Eltern hätten ein tiefes Misstrauen gegen das öffentliche Schulwesen. "Freilerner" kämen eher in akademischen Familien vor, die es sich aufgrund ihres Bildungsniveaus zutrauten, die Kinder selbst zu erziehen und die finanziellen Mittel dafür hätten.
Sie wollten nicht einfach Argumente wegbügeln
Die W.s sind nicht religiös und hatten auch nicht vor, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten. "Wir waren nicht contra Schule eingestellt", erinnert sich Vater Matthias W. Sie hätten Finn vor der Einschulung aber eben nicht gesagt: "Schule ist super, du wirst es lieben." Finn fand es zunächst "cool". Doch in der zweiten Woche hatte er keine Lust auf die Hausaufgaben. "Du musst", sagte Kerstin W. "Wieso?" "Weil." Sie erschrak. Sie wollte die Kinder doch an Erfahrungen reifen lassen und nicht Argumente wegbügeln! Vielleicht hatte Finn ja recht, wenn er klagte, "Schule ist langweilig". Oder wenn er morgens fand, das sei alles viel zu früh.
Schulpflicht ist eine wichtige Errungenschaft
" All great changes are preceded by chaos – allen großen Veränderungen geht Chaos voraus" steht auf einem Plakat an Finns Zimmertür. Wie es dahinter aussieht? Seine Sache. Die W.s nehmen es auch gelassen hin, dass die Geschwister nicht zum Friseur gehen: "Es sind ihre Haare!"
Aber ist die Schule nur eine lästige Beschränkung der persönlichen Freiheit? Ilka Hoffmann von der GEW gibt zu bedenken, dass die Schulpflicht im Zuge der Demokratisierung entstanden ist. "Nicht mehr nur die Reichen konnten zur Schule gehen, auch Feldarbeiterkinder. Eine Relativierung der Schulpflicht könnte die öffentlich finanzierte Schule infrage stellen." Schon jetzt existiert die Idee, statt ein staatliches Schulsystem vorzuhalten, Bildungsgutscheine auszugeben, mit denen man sich die Schulbildung bei privaten Anbietern "einkaufen" kann. Ob diese Gutscheine dann in jedem Fall für die Bildung der Kinder genutzt werden, ist fraglich, sagt Hoffmann.
Wie hältst du das aus?, fragen andere Mütter
Wie machst du das? Fragen andere Mütter, die sich mit dem Heimunterricht schwertun, jetzt, da die Schulen wegen Corona geschlossen sind. Wie hältst du das aus, die Familie immer um dich herum zu haben? Und ihr?, fragt Kerstin W. dann zurück. Wie macht ihr das sonst mit all dem schulischen Druck und Zwang? In kaum einer Familie, die sie kenne, gingen die Kinder gern zur Schule. Und wie oft seien Runa und Leif mit angestauten Aggressionen aus der Schule gekommen! "All das ist jetzt weg und beschert uns eine vorher so nicht da gewesene Harmonie." Wieso sollte es also ein Problem für sie sein, die Kinder um sich zu haben? Wieso sollte sie sich stressen lassen, wenn eins lieber mal chillen statt lernen will? Oft stecke ein Infekt dahinter. Oder Wachstumsschmerzen.
"Es ist wichtig, dem Kind Auszeiten einzuräumen. Es kommt von allein wieder. Druck bewirkt das Gegenteil", sagt Kerstin W. Sie habe die Lehrpläne aber im Hinterkopf, die könne man sich im Internet runterladen. Man müsse einen Überblick haben und zugleich flexibel sein. Tränen? Gebrüll? "Natürlich streiten unsere Kinder auch", sagt Kerstin W. Aber es gebe eben keine Streitereien und Tränen wegen Schulfrust oder Hausaufgabenstress mehr.
50 Euro Bußgeld, das war alles
Kurz darauf kam ein Mitarbeiter vom Jugendamt vorbei, um sich einen Eindruck zu verschaffen. "Ich sehe, Ihren Kindern geht es gut", habe er gesagt – aber dennoch über "mögliche Folgen" gesprochen, erzählt Kerstin W. Über Kindeswohlgefährdung zum Beispiel, ein sogenannter unbestimmter Rechtsbegriff, der bei Schulverweigerung rasch ins Spiel kommt, der aber unterschiedlich gehandhabt wird, je nach Jugendamt.
Wie so vieles: In Hessen ist es eine Straftat, wenn ein Kind nicht zur Schule geht, in Bayern eine Ordnungswidrigkeit. In manchen Orten werden die Eltern völlig in Ruhe gelassen, die W.s wissen aber auch von Familien, die viele Tausend Euro Strafe zahlen mussten, und solchen, denen die Kinder vorübergehend entzogen wurden oder die in Haft kamen. Sie kennen auch welche, die sich ins Ausland abgesetzt haben. Zum Beispiel nach Österreich, wo Heimunterricht erlaubt ist, wenn man ihn anmeldet und einmal jährlich einen Leistungstest ablegt.
Gutachten: Kindeswohl nicht gefährdet
Finn habe genauso schnell Lesen und Schreiben gelernt wie die anderen Kinder, sagen die W.s, das zeige sein Umgang mit Lernmaterialien. "Wieso also das starre Festhalten des Staats am Schulbesuch?" Tests lassen sie ihre Kinder allerdings nicht schreiben. Sie haben aber vieles dokumentiert – auch, um im Zweifel "vor Gericht etwas in der Hand zu haben". Auf Fotos sieht man Finn, wie er mit sechs Jahren Tetra Paks bemalt und beklebt und daraus eine Stadt baut. Weil er sich für Städte interessierte. "So was muss man aufgreifen", finden die W.s. Sie schauten gemeinsam Filme über Stadtplanung, und als dem Fluss die Fische fehlten, googelten sie: Welche sind bei uns heimisch? Es ging um Heimat- und Sachunterricht, Biologie, Gemeinschaftskunde und Kunst – für die W.s ein Paradebeispiel für interdisziplinäres Lernen.
Lernen, mit den Macken anderer umzugehen
In der Schule lernen Kinder, mit den Eigenheiten anderer umzugehen, mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Milieus klarzukommen, argumentiert Ilka Hoffmann von der GEW. "Das ist etwas, mit dem man sich später im Berufsleben Tag für Tag auseinandersetzen muss. Durch die Schulabstinenz werden somit wesentliche soziale Erfahrungen erschwert."
Finn, Runa und Leif sind bei der Jugendfeuerwehr aktiv, die Jungs bei den Naturschützern, Finn geht in den Jugendtreff im Ort, Runa zum Reiten. "Abschottung ist wohl so ziemlich das Letzte, was man uns vorwerfen kann", sagen die W.s. Wenn sie die Tür aufmachten, seien sie mit anderen Kindern im Kontakt, auf dem Spielplatz, im Dorfladen. Finn hat sich daran gewöhnt, dass die Nachbarsjungen ihn gelegentlich mit Kopfrechenaufgaben oder Wissensfragen testen. Dann antwortet er halt. "Das dürftest du doch eigentlich noch gar nicht können", sagen die dann manchmal. So erzählen es die W.s.
Freilerner schneiden nicht schlechter ab
Unabhängige Wissenschaftler, Gerichte, Institute, die der Homeschooling-Bewegung nahestehen, und Aktivisten schätzten den Lernerfolg der Freilerner sehr unterschiedlich ein, sagt der Soziologe Thomas Spiegler. "Der Forschungsstand lässt weder den Schluss zu, dass Homeschooler per se im Nachteil sind, noch unterstützt er die These, dass sie generell besser abschneiden als Schulkinder."
Oft akademische Familien
"Vier Lehrerinnen in zwei Jahren", Kerstin W. rollt mit den Augen und erzählt, wie Stifte und Hefte von einer Lehrerin vom Tisch gewischt worden seien. Sie hätten auch oft die "Brezel" machen müssen: die Hände vor dem Körper verschränken, still sitzen. Auch hätten sie während des Unterrichts nicht auf die Toilette gedurft. Runa kam mit nassen Hosen nach Hause. Die Grundschule möchte sich generell nicht zu Vorwürfen der Familie W. äußern. Es gebe ein laufendes Verfahren. "Es geht mir viel besser so", sagt Runa jetzt. Ihre Freundinnen hat sie schon ein paar Mal besucht. Die Mutter fährt sie hin.
Wollten die jüngeren Geschwister vielleicht auch deshalb zu Hause bleiben, weil sie auf den großen Bruder neidisch waren? Weil der mehr Zeit mit der Mutter verbringen durfte? Kerstin W. glaubt das nicht, erinnert sich aber, wie Leif gequengelt hat, als sie mit Finn nach Berlin gefahren ist, um ins Museum zu gehen und den Zweiten Weltkrieg besser zu verstehen. Leif ging damals noch zur Schule. Sie sei dann nur mit ihm nach Tübingen gefahren. Und mit Runa nach Thüringen.
Manchmal fragen die W.s ihre Kinder: Habt ihr nicht doch Lust auf Schule? Die inhaltlichen Anforderungen wachsen, und Kerstin W. fragt sich, ob sie das irgendwann nicht mehr leisten kann. Vielleicht melden sie Finn dann bei einer Fernschule an. Vielleicht schließen sie sich mit anderen Freilernern zu Lerngruppen zusammen. Oder versuchen eben doch den üblichen Weg. Vor einer Weile fragte Finn, wo er Mädchen kennenlernen könnte. "Dafür ist die Schule per se kein schlechter Ort", sagte die Mutter.