Birgit Steckelberg, 54:
Vor der Tür hat es gerade minus 34 Grad Celsius, weit und breit sieht man nur Schnee. Ich lebe und arbeite für 14 Monate als Chirurgin und Stationsleiterin in der deutschen Forschungsstation Neumayer III in der Antarktis. Acht Monate davon sind wir von der Außenwelt abgeschnitten. Kein Schiff oder Flugzeug kommt in dieser Zeit zu uns durch. Wir sind insgesamt neun Personen: Wissenschaftlerinnen, Ingenieure, eine Köchin und ich. Auf diese Situation wurden wir lange vorbereitet. Vor unserer Abreise haben wir vier Monate lang in Bremerhaven zusammengelebt, uns aneinander gewöhnt und ge lernt, wie wir uns aus einer Gletscherspalte retten können oder Feuer löschen.
Ich habe davor ein ganz normales bürgerliches Leben geführt. Ich hatte einen Job als Fachärztin für Chirurgie in einem Krankenhaus, habe vier Kinder großgezogen und mich um meinen Garten gekümmert. Ich musste mich erst einmal trauen zu sagen: Stopp! Jetzt mache ich etwas komplett anderes. Bis Februar 2020 bleibe ich hier. Neben der Organisation und medizinischen Betreuung untersuche ich, wie es Menschen in extremer Isolation geht. Die Erkenntnisse können für die Raumfahrt genutzt werden. Zwischen uns hat sich eine familiär-freundschaftliche Atmosphäre entwickelt. Umarmungen und Ermutigungen spielen eine große Rolle. Manchmal ist es auch wichtig, jemanden einfach in Ruhe zu lassen. Das ist aber selten nötig. Wer hierherkommen will, sollte nicht vor irgendetwas auf der Flucht sein. Private Probleme, zum Beispiel eine Ehekrise, sollte man nicht mitbringen. Man muss schon eine stabile Persönlichkeit haben, um hier zu funktionieren.
"Ich habe mehr verpasst, als meine Kinder klein waren"
Was mich überrascht hat: Ich brauche weniger Privatsphäre, als ich gedacht hätte. Jeder hat ein 14-Quadratmeter-Zimmer, aber wir verbringen viel Zeit gemeinsam. Auffällig ist, dass sich unser Rhythmus synchronisiert hat. Wir hatten vereinbart, dass wir mindestens einmal am Tag gemeinsam essen. Tatsächlich essen wir immer dreimal zusammen. Wir lachen auch viel miteinander. Damit wir nicht schon in den ersten drei Monaten alles voneinander wissen, dosieren wir die Geschichten, die wir aus unserem Leben erzählen.
Aus dem Alltag zu Hause vermisse ich nichts, außer vielleicht mal einen Opernbesuch. Meine Familie fehlt mir trotzdem sehr. Ich habe vier Kinder zwischen 20 und 27 Jahren und einen wundervollen Lebensgefährten. Ihre Nähe ist nicht ersetzbar, aber das muss ich einfach aushalten. Zum Trost habe ich Fotos von meinen Kindern dabei und ihren alten Stoffhund, den wir früher überall mit herumgeschleppt haben – jetzt hat er es sogar bis in die Antarktis geschafft! Wir schicken uns zwar Bilder per WhatsApp und skypen ab und zu, aber bei manchen Situationen bin ich einfach nicht dabei. Ich werde den Schulabschluss meines jüngsten Sohnes verpassen. Das ist traurig. Aber ich habe viel mehr verpasst, als meine Kinder klein waren und ich viel gearbeitet habe.
"Ich habe mich hier nicht einen Moment gefangen gefühlt"
Manchmal habe ich schon an mir und meinem Lebensweg gezweifelt. Wenn man über sich nachdenkt, findet man ja nicht nur Positives. Jetzt bin ich über 50, die Kinder sind aus dem Haus, und ich habe 25 Jahre lang in Krankenhäusern gearbeitet. Da kann man sich überlegen, macht man das bis zur Rente weiter? Oder bekommt man bei dem Gedanken Luftnot? Ich hatte das Gefühl, noch etwas anderes machen zu müssen. Ich dachte, ich würde irgendwann allein um die Welt reisen, aber eigentlich bin ich gar nicht der Typ Alleinreisender. Der Wunsch, etwas für mich selbst zu tun und meinen Horizont zu erweitern, ist aber geblieben. Das war ein längerer Prozess, der sicher durch den Tod meines Mannes vor sechs Jahren angestoßen wurde.
Ich habe nicht bewusst nach einer Stelle in der Antarktis gesucht. Ich habe Ausschau gehalten nach einer Tür, die sich öffnet. Als ich dann die Stellenanzeige für die Neumayer-III-Station gesehen habe, wusste ich sofort: Das ist die Tür. Dann musste ich auch durchgehen. Die Freiheit, mein Leben selbst gestalten und in die Hand nehmen zu können, war immer zentral für mich. Ich habe mich hier nicht einen Moment auch nur ansatzweise gefangen gefühlt. Objektiv komme ich hier nicht weg. Aber wenn die innere Freiheit groß genug ist, spielen die äußeren Umstände keine Rolle.
Protokoll: Michael Güthlein