Vertrauen muss es weiter geben
Ein Reporter beim "Spiegel" fälscht und erfindet systematisch Reportagen. Ein Schock für die Branche - und ein Weckruf.
Tim Wegner
20.12.2018

Wir in der Redaktion chrismon sind heute mit einem Kater aufgewacht. Nein, nicht nur, weil gestern Weihnachtsfeier war. Sondern wegen des Falles Relotius. Wegen der Wahrheit, dem Glauben, dem Vertrauen – für uns als evangelisches Magazin sind das echte Trigger. Und jetzt stellen wir uns Fragen, die wir (Stand heute – drei Tage vor Weihnachten) nicht alle beantworten können. Aber gerne mit Ihnen und Euch, unseren Lesern teilen wollen.

Fangen wir mit Weihnachten an. Die Weihnachtsgeschichte, von der Theologen und christliche Archäologen nur einen kleinen Teil faktisch belegen können, wird an Heiligabend ihren Zauber und ihre Kraft entfalten wie jedes Jahr. Ich bin vor einiger Zeit mit dem Archäologen Dieter Vieweger und einem Trupp von Journalisten durch Jerusalem gelaufen und habe verstanden: Vieles ist geschummelt, sagen wir: literarisch bearbeitet  in der Bibel. Die Lage von Golgatha? Ein Rätsel. Via Dolorosa? Da kam Jesus nie vorbei. Das macht aber nichts. Die innere, die entscheidende Wahrheit hält sich seit 2000 Jahren, egal ob die Krippe vielleicht nicht in Bethlehem, sondern in Nazareth stand. Die Weihnachtsgeschichte ist eine Geschichte.

Die Reportage, das Feature, das Porträt hält nicht 2000 Jahre

Wir sollten ab sofort trennschärfer in den journalistischen Kategorien sein. Kollege Reinhard Bingener von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" hat es treffend gesagt: "Der Fall #relotius sagt auch etwas über einen Journalismus aus, in dem sogenannte Geschichten als Leitwährung gelten. Die Wirklichkeit liebt es nicht, sich als 'Geschichte' zu präsentieren, dafür ist sie nämlich meist zu banal."

Wir sollten über Reportagen und Porträts wieder sagen: Das ist eine Reportage – wo war der Reporter? War er wirklich dabei, dann schreibe er bitte den Ort, die Zeit und gegebenenfalls das Präteritum dazu. Nicht dieses pseudoliterarische, feuilletonistische, im Präsens gehaltene Schönschreib, das sich in unserem Gewerbe so breitgemacht hat. Die Reportage, das Feature, das Porträt hält nicht 2000 Jahre. Es ist ja nur eine Reportage, mit Verfallsdatum.

Tim Wegner

Ursula Ott

Ursula Ott ist Chefredakteurin von chrismon und der digitalen Kommunikation im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH. Sie studierte Diplom-Journalistik in München und Paris und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Sie arbeitete als Gerichtsreporterin bei der "Frankfurter Rundschau", als Redakteurin bei "Emma", als Autorin und Kolumnistin bei der "Woche", bei der "Brigitte" und bei "Sonntag aktuell" sowie als freie Autorin für Radio und Fernsehen. 2020 und 2021 wurde sie unter die 10 besten Chefredakteur*innen des Jahres gewählt. 2019 schrieb sie den Bestseller "Das Haus meiner Eltern hat viele Räume. Vom Loslassen, Ausräumen und Bewahren".

Wir haben gestern auf unserer Weihnachtsfeier natürlich auch die Erfolge des vergangenen Jahres gefeiert, dazu gehören Journalistenpreise. Auch chrismon bewirbt sich um Preise und gewinnt sie ab und zu. Aber das schale Gefühl, das wir - wie alle Magazine – bisweilen haben bei diesem Eitelkeitszirkus, ist heute morgen in einen Würgereiz übergegangen. Ganz schön korrupt ist das Gewerbe der Journalistenpreise, die oft von großen Firmen gesponsert werden, die das aus ihrem Marketingetat bezahlen. Ich kenne Kollegen, die systematisch die Ausschreibungen der Preise abklappern und dann gezielt Reportagen schreiben, die den Bewerbungskriterien genügen. Nein, ich möchte keinem von denen jetzt unterstellen, dass sie lügen und betrügen. Aber die Verführung ist groß.

Keine Misstrauenskultur etablieren

Ist chrismon gefeit vor einem Betrüger? Ganz bestimmt nicht. Auch wir sind schon mindestens einmal einer gelogenen "Geschichte" aufgesessen – ich will das Wort ein letztes Mal benutzen, denn am Ende war es leider eine Lügengeschichte. Eine Frau hatte behauptet, sie leide an Krebs und habe nur noch wenige Wochen zu leben, wir schrieben über ihre beste Freundin, die ihr Wünsche erfüllte. Die Freundin war einer Lügnerin aufgesessen und wir somit auch. Ob wir jemals eine ähnlich erfundene Geschichte eingekauft haben wie die zahlreichen Reportagen, die Claas Relotius erfunden hat – ich hoffe nicht. Wir haben eine Dokumentationsabteilung, die hat der Spiegel auch. Die Kolleginnen und Kollegen setzen sich neben uns Schreibende, fordern unsere Spiralblocks und unsere Post-its an und gehen Fakt für Fakt den Text mit uns durch. Aber natürlich kommt bei jeder Recherche der Punkt, an dem die Dokumentarin dem Reporter auch trauen muss: "Und dann seid ihr also da reingegangen, und der hat das gesagt?" Ja, dieses Vertrauen muss es weiter geben. Ich möchte hier – trotz allem, was passiert ist - keine Misstrauenskultur etablieren.

chrismon ist oft in einem Zielkonflikt. Nehmen Sie die aktuelle Titelgeschichte, penibel recherchiert und wahr und wahrhaftig. Dafür steht unsere Chefreporterin mit ihrer Expertise, dafür steht aber auch der junge Mann mit Namen und Foto. Unverantwortlich, schreiben uns Leser, man hätte ihn anonymisieren müssen. Hätten wir das gemacht, könnten jetzt andere kommen und sagen: Ist doch alles schön erfunden zu Weihnachten.

Wenn die Fakten nicht sprechen, die Geschichte nicht drucken

Was können wir tun? Das journalistische Handwerk hochhalten, unsere Journalistenschulen, die Evangelische und alle anderen, ordentlich ausstatten, damit Recherche eingeübt wird und journalistische Genres. Unseren RedakteurInnen und AutorInnen so viel Zeit geben, dass sie wirklich vor Ort recherchieren und nicht aus Verlegenheit – weil im Block so wenig ist – anfangen zu fabulieren. Streng sein beim Redigieren, den Kitsch rausstreichen, wo die Fakten für sich sprechen. Und wenn die Fakten nicht sprechen, die Geschichte nicht drucken.

Und dennoch das Vertrauen nicht verlieren. In unsere AutorInnen. Und in unsere Branche, dass sie das wieder hinkriegt.

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Danke für den Einblick.

" Unverantwortlich, schreiben uns Leser, man hätte ihn anonymisieren müssen. " Hier geht es um die Ttelgeschichte vom 20.11.18.
Ich habe mir die Mühe gemacht , nachzulesen, fand aber keinen einzigen negativen Leserbrief. Alle waren voller Dankbbarkeit für diesen wunderbar aufrechten evangelischen Journalismus. Ich übertreibe ein wenig, und da ich kein Journalist bin, leiste ich mir diesen Luxus der Überteibung. Ich möchte niemand verärgern, oder gegen mich aufbringen, es liegt mir auch fern, irgendetwas zu kritisieren, ich möchte nur meine Verwunderung darüber ausdrücken, wie unterschiedlich doch die Wahrheit wahrgenommen werden kann.
" Vieles ist geschummelt, sagen wir: literarisch bearbeitet in der Bibel. ""
Das ist ja nicht neu.
." Nicht dieses pseudoliterarische, feuilletonistische, im Präsens gehaltene Schönschreib, das sich in unserem Gewerbe so breitgemacht hat. "
" Lügenpresse " als Vorwurf scheint demnach, nicht nur in Bezug auf Relotius , nicht ganz von der Hand zu weisen.
Vertrauen lässt sich auch durch einen Maulkorb nicht von Heute auf Morgen wieder neu herstellen, zumal die Mittel, störende Kritik zu ignorieren und abzuwehren, dazu ein wenig einschmeichelnde Transparenz zur Schau gestellt, der Presse unmittelbar zur Verfügung stehen, und eben deshalb nicht gerade dazu beitragen, mehr als Fans zu gewinnen, denen es letztlich eh egal ist, ob die Recherche einwandfrei war oder nicht.
Das macht auch den größten Erfolg von Chrismon aus. Die Menschen lieben die `Wahrheit `, wenn sie nur überzeugend genug `rüberkommt.

" Und dennoch das Vertrauen nicht verlieren. In unsere AutorInnen. "
Bitte, viel Erfolg bei diesem sich selbstbespiegelnden Journalismus. Klar , Geschichten wird es immer geben, aber die Leser werden weniger, auch bei Chrismon. Aber Chrismon hat ja noch seine Gläubigen.
Diese evangelische Nabelschau finde ich interessant, nur macht es mich sehr nachdenklich, denke ich an die Zukunft.
Wer zeigt Euch den Balken in Euern Augen, wenn Ihr Euch nur selbst bespiegelt, und nur Applaus akzeptiert ?

Wie gesagt, Viel Erfolg.