Truthahn to go. Miniaturherd zum Anstecken für Thanksgiving in  einem New Yorker Geschäft
Truthahn to go. Miniaturherd zum Anstecken für Thanksgiving in einem New Yorker Geschäft
Jonathan Nackstrand/GettyImages
Die Truthahn-Legende
Beim Thanksgiving stimmt sich Auslandspfarrerin Miriam Groß langsam auf die Adventszeit ein.
Privat
11.11.2018

Leise summe ich das Weihnachtslied "Herbei, o ihr Gläub’gen", während ich den Truthahn mit einer gewürzten Öltinktur bestreiche. Endlich naht sie, die geliebte Advents- und Weihnachtszeit. Das US-amerikanische "Thanksgiving" ist eine Art Erntedankfest und ist Vorbote der wunderbaren Festzeit. In den USA wird an diesem staatlichen Feiertag das Idealbild einer friedlichen Gemeinschaft von Ur­einwohnern und Einwanderern beschworen, die eine neue Heimat gefunden haben. Der Sage nach feierten die Pilgerväter mit den Wampanoag-­Indianern 1621 bei Plymouth das erste Thanksgiving und überlebten den anschließenden strengen Winter nur aufgrund der indianischen Hilfe.

Privat

Miriam Groß

Miriam Groß 
ist Pfarrerin an der 
St.-Pauls-Kirche 
in New York. 2016 
erschien ihr Buch
"Hello Mrs. Father!" 



Doch die historischen Wurzeln sind kurz: Den wohl beliebtesten ­Feiertag gibt es erst seit dem ameri­kanischen Bürgerkrieg, seit 1863. Als identitätsstiftender Festtag ist er durch verschiedene Ereignisse und Bräuche inspiriert, der Pilgerväter-Mythos ­gehört prominent dazu. Dass der Truthahn in den Mittelpunkt rückte, ist dem Einfluss der Geflügel­industrie im 19. Jahrhundert zu verdanken. Auch das Schicksal des indianischen Über­setzers Squanto, der zentralen Figur des Mythos, entbehrt jeglicher Romantik. Squanto hatte sich seine englischen Sprachkenntnisse während seiner Gefangenschaft angeeignet und führte den Übersetzerdienst auf Wunsch seines Herrn aus. So schwingt bei dieser urameri­kanischen Volksgeschichte ein bitterer und rassistischer Hintergrund mit. Doch im Gedächtnis der allgemeinen Bevölkerung wird dies in eine warme Geschichte um Toleranz zwischen Völkern gekleidet und die amerikanische Zivilreligion in den Familien mit einem wunderbaren Festschmaus tief verankert. Nachdenklich nehme ich den 
goldbraunen Truthahn aus dem Ofen. Der wohlbekannte, liebgewonnene Geruch lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen und verändert das Weihnachtslied in einen Ruf zu Tisch: "Herbei, o ihr Hungrigen."
 
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