chrismon: Was will die chinesische Regierung mit dieser Bürgerbewertung erreichen?
Kristin Shi-Kupfer: Sie will „soziale Vertrauenswürdigkeit“ – so der Name des Systems – schaffen. Gemeint ist aber: Jeder soll sich regelkonform verhalten im Sinne des Staates. Im Westen handelt die Gesellschaft dagegen in freien Debatten aus, was Vertrauen ist und nach welchen Werten es sich richten soll.
Was bewertet denn der Staat genau?
Zum Beispiel, ob Menschen ihre Rechnungen pünktlich zahlen oder ob sie die Straßenverkehrsordnung einhalten. Menschen werden aber auch nach subjektiven Kategorien bewertet, etwa was sie in Onlinechats sagen. Wenn ein Staat das nach nicht transparenten Maßstäben bewertet, schüchtert er Menschen ein, ihre Meinung frei zu äußern.
Mao wollte, dass Kinder ihre Eltern ausspionieren.
Mit Hilfe von Big Data kann das Leben systematisierbar und noch umfassender durchleuchtet werden. Es wird Menschen unter einen permanenten Druck setzen, gut genug im Sinne des Staates zu sein. Man weiß nicht, was das genau heißt – in einem Land, das kein Rechtsstaat ist.
Sollen die IT-Firmen die Daten halt nicht weitergeben.
Dann könnte die Regierung sie massiv unter Druck setzen.
Also ist es an der Bevölkerung, zu protestieren.
Ich sehe kein großes Potenzial zum aktiven Widerstand. Dazu ist der Sicherheitsapparat zu abschreckend mächtig. Manche Chinesen werden versuchen, das System auszutricksen. Es gibt bereits T-Shirts, auf die ein Anschnallgurt gedruckt ist, um Sanktionen gegen Fahren ohne Anschnallen zu umgehen. Womöglich aber werden sie ihre Freundschaften danach ausrichten: Deine Punktzahl ist zu niedrig, das zieht mich auch runter.
Was passiert bei Regelverstößen?
Man bekommt etwa keinen Kredit oder einen schlechteren Studienplatz. Bilder und Daten von Menschen, die gegen diese Regeln verstoßen, werden auch veröffentlicht, als abschreckendes Beispiel. Wie ein Pranger.
Warum sollte uns in Deutschland das interessieren?
Populisten und Autokraten können das System kopieren. Außerdem erfasst das System auch Daten von Ausländern, die in China leben oder dorthin reisen.
Realistisch, dass die Megadatenbank 2020 steht?
Nein. Die technologischen Herausforderungen sind enorm. Viele chinesische Behörden und Staatsunternehmen, die Informationen liefern sollen, werden das hinauszögern. Auch für sie sind Daten Macht. Allerdings ist China so gut wie kein anderes Land dafür gewappnet, so ein System aufzubauen.