Mit aller Kraft zieht Gobina Mahendran am Seil. Die großen Räder setzen sich in Bewegung, darüber ein kunstvoll geschnitzter Aufbau, der zehn Meter in den grauen Ruhrpott-Himmel ragt. Neben einer goldenen Statue der Göttin Kamadchi, kaum unter den Blumen und Papiergirlanden zu sehen, hockt ein Priester mit langem, grauem Bart. Mit Gobina Mahendran zerren vierzig oder fünfzig Frauen an dem Seil, an einem zweiten ebenso viele Männer, alle barfuß.
Vor Gobina Mahendran tanzen junge Männer. Auf den Schultern tragen sie schwere, mit Pfauenfedern geschmückte Holzkonstruktionen, um die Hüften weiße Tücher mit goldenen Borten. Sie lassen sich die Wangen mit Pfeilen durchbohren. Ein alter Mann sticht fingerlange Eisenhaken in ihre Rücken. Daran sind Leinen befestigt, mit denen Begleiter ihre Schritte lenken. Sonntagmittag im Gewerbegebiet Hamm-Uentrop. Tamilische Hindus feiern ihr Wagenfest.
Gobina Mahendran lebt in Steinhagen bei Bielefeld. Dort haben sich ihre Eltern niedergelassen, nachdem sie 1992 mit ihren Kindern aus dem Bürgerkrieg in Sri Lanka geflohen waren. Sie wurden Deutsche. Die 27-Jährige arbeitet als Arzthelferin in Paderborn, verwaltet Patiententermine, nimmt Blut ab, desinfiziert Wunden. Heute früh ist sie mit ihrer jüngeren Schwester Saleny nach Hamm angereist, um die Göttin Kamadchi an einem der größten Hindutempel in Europa zu verehren: dem mit Löwen und vierarmigen Götterstatuen dekorierten Sri-Kamadchi-Ampal-Tempel, direkt hinterm RWE-Kraftwerk.
Mit den beiden Schwestern feiern etwa 18 00 Tamilen das Wagenfest „Theer“. Sechzigtausend leben in Deutschland, gut zwei Drittel von ihnen sind Hindus. Viele sind während des Bürgerkrieges auf Sri Lanka, der 1983 ausbrach, nach Europa ausgewichen – vor den Anschlägen von Singhalesen auf die Minderheit der Tamilen und vor dem Kampf der tamilischen Unabhängigkeitskämpfer. Der Bürgerkrieg endete 2009, als singhalesische Regierungstruppen die Führung der tamilischen Kämpfer erschossen.
Einer der Tänzer mit den Eisenhaken im Rücken stellt sich als Praba vor. Seine Wunden heilen schnell, sagt er, nach drei Tagen sei alles wieder gut. „Göttliche Wunden“, sagt er lächelnd. Er will sich für ein erfülltes Gebet vor der Göttin erkenntlich zeigen. Dafür gibt es auch andere Möglichkeiten: am Wagenseil ziehen, Milch- oder Feuerschalen auf dem Kopf tragen, sich mit nacktem Oberkörper über den Kiesweg rollen. Nicht alle Möglichkeiten werden in Hamm noch praktiziert. Seit 2004 ein Holzgerüst zusammenbrach, an dem sich ein Mann mit Eisenhaken im Rücken aufgehängt hatte, ist dieses Selbstopfer hier nicht mehr erwünscht.
"Als Hindu kann ich mir aus vielen Traditionen das rauspicken, woran ich glaube"
Auch Gobina Mahendran hat eine Bitte an die Göttin gerichtet. Seit acht Jahren wartet sie auf einen Medizinstudienplatz. Bekommt sie ihn dieses Jahr, will sie beim nächsten Tempelfest ein Opfer bringen. Sie will eine silberne Schale, gefüllt mit Milch und einer Kokosnuss, auf dem Kopf vor dem Wagen der Göttin hertragen. Nein, sie sieht da keinen Widerspruch zwischen ihren religiösen Bräuchen und dem nüchternen, wissenschaftlichen Medizinstudium. Dafür, wie gut sie ihren Beruf ausübt, spiele die Religion keine Rolle.
Siva Sri Arumugam Paskarakurukkal heißt der Priester am Uentroper Tempel. Seit er 1985 vor dem Bürgerkrieg nach Hamm floh, ist er sicher: Die Göttin Kamadchi hat ihn hierher geschickt. Dann wäre es ihr zu verdanken, dass Hindus aus ganz Europa hier einmal im Jahr ganz groß feiern. Ginge es nach ihm, müsste sich dabei niemand selbst kasteien, sagt er. In der südindischen Shankarachayra-Tradition, in der er ausgebildet wurde, gebe es so etwas nicht. Aber die Leute wollten das so. Und je mehr kommen, desto mehr Spenden füllen die Tempelkassen.
Dominik Asbach
Birte Mensing
Die erste Blutung wird ausgiebig gefeiert. Zum Pubertätsfest reist die Verwandtschaft an, das Mädchen wird hübsch gemacht und reich beschenkt. „Ein peinliches Fest“, erinnert sich Saleny Mahendran. Früher war die Frau mit der ersten Periode erwachsen, gebärfähig – reif für den Heiratsmarkt. Heute ist das nicht mehr so, sagt Gobina Mahendran. „Viele bekommen ja schon mit zehn oder elf ihre Periode.“ Als Jugendliche verheiratet zu werden – das ist für die Schwestern ebenso unvorstellbar wie für ihre deutschen Freundinnen.
Der Wagen, auf dem die Göttin zwischen Blumen und goldenen Verzierungen mit einem Akkuschrauber befestigt wurde, sieht abenteuerlich selbstgebaut aus. Der Priester und sein Gehilfe sitzen gefährlich nah am Rand. Fragt man bei den zuständigen Behörden der Stadt Hamm nach, ob das alles so in Ordnung ist, erfährt man: Die Straßenverkehrsordnung verbietet es eigentlich, sich so auf den Wagen zu setzen. Aber man mache da eine Ausnahme. Verwaltungstechnisch sei das hier übrigens nichts anderes als ein Karnevalsumzug.
Das eigentliche Problem für die Stadtverwaltung sind die vielen Autos beim Tempelfest. Der Priester errechnet zwar den Termin des Festes nach bestimmten Sternenkonstellationen. Aber die Sterne scheinen Rücksicht auf die städtischen Vorgaben zu nehmen. Das Fest fällt immer auf einen Sonntag. An anderen Tagen könnten Straßensperren in dem Ausmaß nicht genehmigt werden.
„Grundsätzlich ist die Stadt ein Förderer der Gemeinde“, sagt Ulrich Kroker, ein ehemaliger Stadtrat und bewährter Vermittler zwischen Hindus und Verwaltung. Nach der ersten Prozession 1993, damals noch in einem Wohngebiet, beschwerten sich Anwohner. Zu laut, zu viele Leute, kein Durchkommen mit dem Auto. Gemeinsam mit dem Priester überlegte der Stadtrat, was zu tun sei. Die Lösung: Die Gemeinde erhielt ein Grundstück im Gewerbegebiet für einen eigenen Tempel.
Dass die Firma Westfleisch in direkter Nachbarschaft 200 00 Tonnen Schweine- und Rindfleisch im Jahr verarbeitet, nahm der Priester in Kauf. Er ernährt sich zwar streng vegetarisch. Dafür war der Bauplatz günstig, und Westfleisch und andere Firmen stellen Parkplätze zur Verfügung. Auch dass die Prozession dieses Jahr aus verkehrstechnischen Gründen einen Kilometer kürzer sein muss, nimmt er gelassen. So muss der Wagen eben öfter mal anhalten.
Die wenigen Anwohner im Industriegebiet verfolgen das Treiben interessiert. „Ich find das gut, die sind ja friedlich“, sagt ein Schaulustiger am Straßenrand, der sich als Mohamed vorstellt und ein paar Straßen weiter wohnt.
Die Männer mit den Eisenhaken im Rücken sind ausdauernd. Über Stunden tragen sie ihre schweren, bunt geschmückten Holzbögen vor dem Wagen her. Hin und wieder taumelt einer, fällt zu Boden. Es ist nicht klar, ob er unterzuckert ist oder in Trance. Die Männer haben die Tage vorher gefastet. „Manche sagen, dass göttliche Energie von den Leuten Besitz ergreift“, sagt Gobina Mahendran. „Meistens erinnern sie sich nicht daran.“ Als Arzthelferin müsste sie Menschen in diesem Zustand mindestens Ruhe verordnen. Hier bekommen die Männer ein bisschen Wasser ins Gesicht und ein paar aufmunternde Klapse. Dann nehmen sie die hölzernen Bögen wieder auf die Schultern und tanzen weiter.
Die Prozession zieht vorbei an einer Autowaschanlage, einem Stahlhandel und dem Kran eines Industrieanlagenherstellers. Die Gläubigen lauschen den gesungenen Mantras, den lauten Trommlern und Flötenspielern und greifen nach den Blüten, die der Priester der Göttin eben noch zu Füßen gelegt hat und jetzt in die Menge wirft. An Marktständen neben dem Tempel verkaufen Tamilen festlich bestickte Saris, Mangos und Kokosnüsse, Hennafarbe aus der Tube. In der Luft liegt ein Stimmengewirr aus Tamilisch, Deutsch und Englisch. An den Zäunen hängen Werbebanner in tamilischer Schrift. „Schade, dass ich Tamil nicht so gut lesen und schreiben kann“, sagt Gobina Mahendran etwas wehmütig.
Fragt man die jungen Menschen in der Menge, was die hölzernen Bögen bedeuten und was der Priester genau mit den Blüten macht, antworten sie meist: „Weiß ich auch nicht so genau.“ Dass viele junge Tamilen zum Wagenfest kommen, muss auch nicht unbedingt religiös begründet sein. „Man trifft die ganzen tamilischen Freunde, die man sonst selten sieht“, sagt Gobina Mahendran. Für ihre jüngere Schwester steht fest: „Wenn ich einmal heirate, dann einen Tamilen.“
In vielen tamilischen Familien schalten sich die Eltern bei der Partnerwahl ein. Auch Gobina und Saleny Mahendrans Eltern fragen heute noch die tamilischen Freunde der jungen Frauen, wo sie herkommen. Das Dorf verrät die Kaste. Mit ihrer Realität in Bielefeld habe das wenig zu tun, sagen die Schwestern. Sie interessieren sich nicht für Kasten.
Hin und wieder durchqueren Gehilfen des Priesters die Menge. Sie tragen brennende goldene Ölleuchter. Menschen strömen auf sie zu, berühren die Leuchter mit den Handflächen und führen die Hände zum Gesicht. Sie möchten Segen mitnehmen, sagt Gobina Mahendran und verschwindet selbst in Richtung Feuer.
„Irgendwie ist das die Philosophie des Hinduismus, dass man sich rauspickt, was man glauben kann und will“, sagt sie, als sie wieder aus der Menge auftaucht. Die meisten tamilischen Hindus verehren Gott Shiva und seine Familie. Ihm, seinen Begleiterinnen oder seinen Kindern sind auch die meisten Tempel geweiht. Am bekanntesten und beliebtesten ist der Elefantengott Ganesha. Die Göttin Kamadchi gehört als eine Form der weiblichen Begleitung Shivas eher zum erweiterten Familienkreis.
"Wir haben alles, was wir brauchen: die Autobahn, den Kanal und viele Parkplätze"
In ihrem Heimatort Steinhagen gehen die Geschwister Mahendran an Weihnachten in die Kirche. „Wir sind da immer die einzigen Dunkelhäutigen“, sagt Saleny Mahendran. „Für mich ist das Gottesdienst. Ich bete auch das Vaterunser.“ Jesus und Kamadchi ergänzen sich, wie Alltag und Religion, Deutsch-und Tamilisch-Sein. Auch der Segen, den die Göttin bei ihrer Rundfahrt spendet, soll allen gelten: Gläubigen und Anwohnern, egal ob Muslime, Christen oder Atheisten. Viele Einwohner Hamms waren auch schon einmal im Tempel, regelmäßig werden Schulklassen durch das Gebäude geführt. Der Bürgermeister stattet dem Wagenfest einen kurzen Besuch ab, bekommt einen roten Punkt auf die Stirn und eine Blumenkette umgehängt.
Seit März 2017 ist der Tempelverein eine Körperschaft des öffentlichen Rechts – und damit Kirchen, Moscheen und Synagogen in Nordrhein-Westfalen gleichgestellt. Das ist dem Priester wichtig. Er hofft, dass es leichter wird, ein geplantes tamilisches Kulturzentrum zu bauen. Dort will er Jugendliche in Religion und Tradition unterrichten. Kirchensteuern könnte er nun auch erheben. Doch das wäre zu kompliziert. Die Gemeindemitglieder leben über ganz Europa verstreut.
Nach drei Stunden ist die Prozession wieder am Tempel angekommen. Mit Gemüse und neuen Klamotten bepackt, machen sich die Menschen auf den Heimweg. Gobina Mahendran würde morgen gerne noch ein-mal kommen, wenn die Göttin gewaschen wird. Aber sie muss wieder in die Arztpraxis.
Die Zeremonien in Hamm erinnern sie an Urlaub in Sri Lanka. „Da ist es für mich einfacher, spirituell zu sein. Der Tempel und die Feste sind da Teil des Alltags“, sagt sie. Wäre das ein Grund, nach Sri Lanka zu ziehen? „Eher nicht“, antwortet sie spontan. Aber dann fügt sie hinzu: „Eigentlich würde ich nach meinem Medizinstudium gern ein Krankenhaus in Sri Lanka aufbauen.“
Am nächsten Tag versammeln sich rund 200 Tamilen am Tempel. Die Göttin muss gereinigt werden, bevor sie wieder in den Tempel einzieht. Gut, dass der Datteln-Hamm-Kanal zu Fuß nicht weit ist. Unter der Autobahnbrücke der A2 verbrennt der Priester Holz und Kräuter, heiligt Flüssigkeiten, kippt sie über die kleine Götterstatue, in den Kanal. Jetzt ist der Kanal heilig, zumindest für den Moment.
In der Binnenschifffahrtsstraßen-Ordnung steht zwar: Im Bereich bis zu hundert Metern ober- und unterhalb einer Brücke ist das Baden verboten. Ein Dutzend Männer steigt trotzdem ins Wasser, bekleidet nur mit einem um die Hüfte geschlungenen Tuch. Sie tauchen unter, wieder auf, steigen aus dem Wasser. Dem Priester klebt das orangefarbene Tuch an den Beinen, die langen grauen Haare und der Bart tropfen. Bis zum Tempel sind die meisten wieder trocken. Mit aufwendigen Zeremonien wird die Statue der Göttin wieder an ihren Platz gebracht. Da bleibt sie, bis sie nächstes Jahr wieder unter die Leute geht.
Serie Religionen
In fünf Folgen berichtet chrismon plus über fremde religiöse Gemeinschaften, die in Deutschland heimisch werden, die ihre Sitten und Bräuche der neuen Welt anpassen müssen. Wie geht das? Und wo stoßen sie an ihre Grenzen?