Christian Unger mit Rollstuhl am See
Michael McKee
Schluss mit der Jammerei
Die Krankheit schreitet voran, und er passt sich an. Wie ein Strauch, von Wind und Wetter gepeitscht
28.03.2017

Christian Unger, 54:

In der Schule hat es mich gegraust, als wir im Bio­logieunterricht über Erkrankungen des Nervensystems sprachen. Horror, dachte ich. Hoffentlich passiert mir so was nie. Mit 33 erfuhr ich dann, dass ich multiple Sklerose haben könnte. Damals sah ich manchmal Doppelbilder. Ich hatte ein Kribbeln in den Beinen. Beim Laufen fühlte es sich an, als ginge ich auf Kies.
Es war nur eine Verdachtsdiagnose, mehr nicht. Ich ­hatte ja nichts. Nur ab und zu ein paar Missempfindungen, die jeder kennt. Aber ich war deprimiert, ich fühlte mich existenziell bedroht. Mein Körper hatte einen Wackelkontakt. Die Selbstverständlichkeit, mit der man durchs Leben geht, war dahin.

Das ist jetzt 21 Jahre her. Ich beruhigte mich wieder. Ich heiratete, baute mein Geschäft als Hausverwalter auf, ­ich bekam Kinder. Die Symptome der Krankheit waren ­lange schwach, sie kamen und gingen. Aber vor dreieinhalb ­Jahren hat sich mein Zustand drastisch verschlechtert. Ich kann seither nicht mehr arbeiten und bewältige zu Fuß nur noch ganz kurze Strecken, an Stöcken.

Vor einem Jahr haben meine Frau und ich uns getrennt. Natürlich war ich nach der Trennung verzweifelt. Auch wütend. Auf die Krankheit. Denn die folgt dem Terrorprinzip: Sie kann jederzeit zuschlagen. Die Symptome belasten auch die Familie.

Als ich mein Geschäft aufgeben musste, saß ich tagelang stumpf vorm Computer. Auf Tauchstation. Diesmal war es anders. Ich wollte nicht vor die Hunde gehen. Darum beschloss ich, das ganze Gejammer links liegen zu lassen und anzupacken. Ich machte eine Checkliste, was ich alles brauchen würde, und nahm mein neues ­Leben in die Hand.

Die Wohnung musste angepasst und renoviert werden. Über Wochen lebte ich auf einer Baustelle und konnte nicht mitmachen, nur zuschauen. Für eine Weile zog ein junger Flüchtling bei mir ein. Irgendwie waren wir beide Flüchtlinge, wir mussten beide neu anfangen, wir halfen einander und hatten sogar Spaß.

Die Furcht vor etwas ist viel schlimmer als das, was kommt

Inzwischen habe ich einen großen elektrischen Rollstuhl. Morgens kommt jemand von der Pflegestation, hilft mir beim Waschen und Anziehen, kümmert sich ums Frühstück. Ein paar Stunden in der Woche unterstützt mich ein Pflegehelfer.

Vergangenes Jahr, im Sommer, habe ich mir dann selbst ein Geschenk gemacht: vier Wochen allein auf Borkum. Ich stieg in den Nachtzug. 17 Stunden saß ich in meinem Rollstuhl im ICE und im Regionalzug und auf der Fähre. Als ich endlich auf der Insel ankam, war ich sehr froh. Ich rollte los zum Hotel, eine Tasche im Schoß, eine hing hinten dran. Alles hatte ich selbst organisiert. Nur mit dem Weg vom Hafen weg hatte ich mich verschätzt.

Es zog und zog sich, der Akku meines Rollstuhls stand nahe Null, es begann zu regnen. Aber irgendwann kam ich an, bepackt wie ein Lastesel, mit dem letzten Quäntchen Strom in der Büchse, und wusste, jetzt ich bin da. Das war ein großes Erfolgserlebnis, eine riesige Befriedigung.

Ich hatte immer Spaß daran, Probleme zu lösen. Das ­Leben ist Veränderung, es geht immer um Anpassung. Man kann eine Lösung finden, wenn man danach sucht. Seit Jahren bin ich gewohnt zu meditieren, davon profitiere ich jetzt. Wenn es mir nicht gut geht, versuche ich, alle Bewertungen hinter mir zu lassen und einfach wahrzunehmen, was ist. Das nimmt mir die Angst.

Einmal, auf einer Fahrt über die Insel, kam ich an einem Sanddornstrauch vorbei. Ich habe das Bild noch vor Augen: wie der Strauch dasteht, von Wind und Wetter gepeitscht. Aber er ist zäh. Seine Beeren strotzen vor Ener­gie. Er lässt sich nicht unterkriegen.

Im Verlauf meiner Krankheit ist mir ein Satz aus der ­Bibel immer wichtiger geworden. Er kommt nicht von ­außen, sondern ist tief in mir drin, es ist eine Erfahrung: „Fürchte dich nicht.“ Die Furcht vor etwas ist viel schlimmer als das, was kommt.

Wenn der junge, gesunde Christian aus dem Bio­unterricht jetzt vor mir stünde, was würde er sehen? Einen großen, bebauchten Mann und lauter äußerliche Schreckensmerkmale, den Rollstuhl, die Stöcke. Aber aus den Augen des Mannes blitzt es, und immer wieder lacht er auch.

Protokoll: Monika Goetsch

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