Marco Wagner
"Genie der Aufmerksamkeit"
Diplomat, Mäzen, Humanist: Harry Graf Kessler brachte Menschen, Kulturen und Nationen zusammen
Tim Wegner
Privat
01.01.2017

In dieser Wohnung hätte er sich wohl­gefühlt. Bücher und Kunst, ein Konzertflügel, sogar einer der von ihm so geliebten Vierbeiner wuselt herum. Berlin, Leibnizstraße, Privatwohnung der Berliner Dokumentarfilmerin Sabine Carbon und Sitz der Harry-Graf-Kessler-Gesellschaft. Was kann uns der „Mann, der alle kannte“, der Kunstmäzen, Salonlöwe und Flaneur durch die Moderne heute sagen? Für Sabine Carbon ist der „rote Graf“ ein befeuerndes Vorbild: Kessler brachte Menschen und Gedanken zusammen in Zeiten, in denen der Kontinent Europa auseinanderbrach.

Er war ein Netzwerker, lange bevor es dieses Wort gab. So sehen sich auch die mehr als 70 Mitglieder der Gesellschaft aus der ganzen Welt: Sie veranstalten grenzüberschreitende Symposien, Ausstellungen, Diskussionen über Kunst, Kultur, Politik.

Harry Clemens Ulrich Kessler wird am 23. Mai 1868 in Paris geboren. Die Mutter, eine in Indien geborene Comtesse mit irischen Wurzeln, betört als Salonschönheit Männer in ganz Europa. Einer ihrer Verehrer ist der greise Kaiser Wilhelm I., der die Familie 1881 in den Adelsstand erhebt. Das – unwahre – Gerücht, Harry sei illegitimer Spross eines royalen Seitensprungs, verstärkt den sagenhaften Ruf des Paradiesvogels. Der Vater, ein reicher Bankier, hinterlässt ihm später ein Vermögen.

Mit Albert Einstein an der Spitze der ­deutschen Friedensbewegung

Harry wächst dreisprachig auf, er besucht Schulen in Paris, London und Hamburg und entdeckt als Zwölfjähriger seine Begabung zum Schreiben: „Ems, Tagebuch, 16. Juni 1880“, lautet der erste, mit Bleistift geschriebene Eintrag. 45 Jahre später hinterlässt Kessler 57 eng beschriebene Kladden, über 10 000 Seiten. Es ist der wahre Schatz, den jeder entdeckt, der sich näher mit Harry Graf Kessler beschäftigt. Als „Genie der Aufmerksamkeit“ beschreibt ihn der ­Historiker Christoph Stölzl: ­„Radikal in seiner Sicht und visionär ­in der Wahrnehmung des Menschenbildes in einer Umbruchepoche“ schaffe Kessler als Zeitzeuge ein einzigartiges „Pan-Optikum seiner Zeit“.

Ob als Soldat im Ersten Weltkrieg, in der Revolution 1919 oder im Exil ab 1933: Harry Graf Kessler, Nietzsche-Anhänger und religiöser Zweifler, ist unbeirrt Humanist. 1926 trifft er die schwedische Krankenschwester Elsa Brandström. Kessler erkennt in ihr eine wahre Heldin: Sie habe nicht nur zahllose Weltkriegssoldaten vor dem Tod bewahrt, sondern ihnen „den Glauben an die Menschheit gerettet“. 1919 wird er zum „roten Grafen“: Er unterstützt die Sozialisten, schreibt flammende Aufrufe gegen die Kinderarmut, setzt sich mit Albert Einstein an die Spitze der ­deutschen Friedensbewegung, engagiert sich beim Völkerbund.

Über 12 000 Namen bekannter und weniger bekannter Personen tauchen in den Tagebüchern auf. Kessler diskutiert mit Gustav Stresemann, er durchsäuft Nächte mit Gerhart Hauptmann, Josephine Baker tanzt halbnackt in seiner Wohnung. Mit Hugo von Hofmannsthal schreibt er Szenen zum Rosenkavalier. Er fördert Maler wie George Grosz und Edvard Munch. Er gründet die Cranachpresse in Weimar und verlegt einige der immer noch schönsten Bücher der Welt. Bissig und scharf sind seine Charakterisierungen.

Zurückgezogen stirbt er im Exil

Als die Nazis an die Macht kommen und die Weimarer Republik endet, notiert er zum Beispiel: „Es ist der grausamste Selbstmord, denein Volk je begangen hat.“ Über fast alle schreibt er im Tagebuch – nur nicht über sich selbst. Kessler ist homo­sexuell, lebenslang muss er ­fürchten, dass dies publik wird. Biografen vermuten, dass er, der ideale Kandidat, deshalb keine Karriere im Auswärtigen Amt machte. Seine rastlosen Reisen sind auch Zeichen der Einsamkeit. Zurückgezogen stirbt er 1937 im Exil. Bei ihm sind in dieser letzten Zeit nur seine Schwester und seine Dackelhunde.

1903 sollte Kessler in Weimar ein Kunstmuseum aufbauen. Er holte französische Neoimpressionisten und legte mit Henry van de Velde den Grundstein zum Bauhaus. Vom Museum steht heute nur noch die Ausstellungshalle. Kessler zu Ehren trägt sie seinen Namen – viel mehr jedoch gibt es dort nicht über ihn zu sehen. Das sei doch eine Schande, beschwert sich die Kartenverkäuferin: „Alle, die kommen, fragen nach ihm.“ Nach Harry Graf Kessler.

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