Mit klammen Fingern öffnet Samira die Wohnungstür. Aus der Wohnung schlägt uns ein abgestandener Geruch entgegen. Wir reißen die Fenster auf und behalten die dicken Jacken an – es ist Januar, draußen ist es kalt. Samira streift ihr Kopftuch ab und schüttelt die langen Haare auf. Ihr Tuch trägt sie jeden Tag anders – und modischer als viele andere Musliminnen. Samira kommt aus Inguschetien, der kleinsten und jüngsten Teilrepublik der Russischen Föderation im nördlichen Kaukasus.
Sie zeigt mir die leeren Räume: drei kleine Zimmer unter dem Dach, ein kleines Bad, eine Küche und ein Wohnzimmer mit Panoramafenster und weitem Blick über die flache Landschaft Brandenburgs. Samiras Augen, sonst von Schatten umrahmt, schimmern grün auf, vielleicht aus Vorfreude, endlich der Berliner Asylunterkunft zu entkommen. Endlich ihre eigenen vier Wände beziehen zu können. Unsere Schritte hallen im leeren Raum. Samira wühlt in einem Koffer mit Kinderkleidung, der mitten im Wohnzimmer liegt. In der ersten Euphorie hatte sie ihn im Spätsommer 2015 nach der Renovierung hier abgestellt. Sie war davon ausgegangen, gleich einziehen zu können. Doch dazu kam es nicht.
Ein knappes halbes Jahr später wohnt sie immer noch in der Notunterkunft, in der sie seit gut zwei Jahren mit ihren vier Kindern in einem Zimmer lebt. Denn die Behörde hat den Umzug nicht genehmigt. Niemand kann ihr sagen, warum. Die Miete in der neuen Wohnung wäre wesentlich günstiger als die Pauschale für den Raum mit fünf Betten im Heim.
Als Alleinerziehende hat sie schlechte Chancen auf dem Wohnungsmarkt
In der Sammelunterkunft habe ich Samira kennengelernt: einem ehemaligen Krankenhaus, in dem sich 900 Menschen aus verschiedenen Nationen Duschen, Klos und Küchen teilen. Es ist nicht das schlechteste Heim, aber Samira sehnt sich danach, endlich irgendwo anzukommen, eine Wohnung für sich zu haben. Sie ist erst Mitte zwanzig. Ihr jüngstes Kind hat sie vor vier Jahren auf der Flucht zur Welt gebracht.
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Um nicht tatenlos herumzustehen, schlage ich vor, eine Liste mit den Dingen zu machen, die noch fehlen: Tische, Stühle, Kleider-, Kühlschrank. Samira schüttelt den Kopf. Sie lächelt über meinen Eifer, scheint plötzlich nicht mehr daran zu glauben, dass sie jemals hier einzieht. Sie bezweifelt, dass sie überhaupt in Deutschland bleiben kann. Ratlos stehe ich im kalten Luftzug neben ihr.
"Das hasse ich bei mir in Inguschetien“"
Uns wird es zu kalt. Wir beschließen, einen Kaffee zu trinken, ehe wir die Kinder abholen. Viel Zeit bleibt nicht. Wir nehmen das nächste Restaurant an der Bushaltestelle. Samira sieht sich erstaunt um. In Nasran, der größten Stadt Inguschetiens, in der Samira aufwuchs, war sie nie in einem Restaurant.
Vor fünf Jahren hat sie ihre Heimat verlassen. Schwanger und mit drei kleinen Kindern ist sie ihrem Mann von einem Flüchtlingslager zum nächsten gefolgt. Anfang 2014 kam die Familie nach Deutschland. Hier hat sie nach zähem Ringen ihren Ehemann verlassen.
Ein mutiger Schritt. Kaum eine Frau aus dem Kaukasus wagt es, sich von ihrem Mann zu trennen, weil sie die innerfamiliären Konsequenzen fürchtet. „Das hasse ich bei mir in Inguschetien“, sagt Samira. „Bei uns die Frau ist niedriger als der Mann. Deswegen sind viele Frauen unglücklich. Deswegen wünsche ich, nie zurückzugehen. Weil ich jetzt allein bin und Kinder habe.“
Anfangs dachte auch Samira nicht an Trennung. Dann warf ihr Mann ein Messer nach ihr. Es blieb im Bein stecken. „Im Krankenhaus habe ich gesagt: Ich bin auf der Treppe mit Müll und Glas gefallen.“ Aber der Doktor war aus Aserbaidschan und sprach Russisch. „Sag ruhig, was passiert ist“, drängte er. Samira erzählte alles, der Arzt behielt die Geschichte auf ihren Wunsch aber für sich.
Ihr Mann, selbst ein Folteropfer
Wenn der Notfallwagen in die Sammelunterkunft gerufen wird, kommt auch die Polizei. Auf der Wache beknieten die Polizisten Samira, sie solle erzählen, was wirklich passiert sei, wie lange sie der Gewalt schon ausgesetzt sei. Samira schwieg. Eine Verwandte des Ehemanns hatte sie bereits per Handy gewarnt: „Wir kommen. Wenn du redest, wirst du sehen, was wir mit dir machen und was wir deiner Familie erzählen.“ Samira schwieg weiterhin. Der Ehemann, die Tante und ein Bekannter aus der Sammelunterkunft holten sie von der Wache ab. Noch im Bus beschuldigten sie Samira wütend, es sei ihre Idee gewesen, Polizei und Krankenwagen zu rufen. „Du wolltest, dass er dich schlägt. Wie kannst du so etwas machen? Du willst nicht normal in deiner Familie leben. Du willst Freiheit hier!“
Die tschetschenische Community im Flüchtlingsheim verfolgte das Familientribunal. Auch wenn das Wohnheim nach dem Messerangriff ein dreimonatiges Hausverbot für ihren Mann ausgesprochen hatte: In ihren Augen hatte Samira Schande über ihre Familie gebracht. Sie klagten: „Wie kann sie ihren Mann verraten und rausschmeißen?“ Auf dem Flur riefen sie ihr hinterher: „So eine Frau bist du! Du hast deinen Mann verlassen. Jeder Mann schläft mit dir.“
Samira erzählt mit tränenerstickter Stimme. Sie fühle sich entsetzlich einsam. Und das Schlimmste sei für sie, dass die Kinder das alles mitbekommen. „Die Kinder brauchen ja einen Vater – aber was soll ich tun?“ Nun hat sie entschieden: „Es ist besser, wenn die Kinder ohne Vater und mit mir leben. Immer schlagen und streiten ist auch nicht gut für die Kinder.“
Die Autorin
###drp|ELRjbpPHg1RfncU8lNlzoYWk00155145|i-43||###Natalie Kreisz, 1968 geboren, freie Autorin und Redakteurin für den Rundfunk, hat Samira über die ehrenamtliche Arbeit als Deutschlehrerin kennengelernt
Die Frauenhäuser in der Stadt sind überfüllt. Für Samira war schon damals kein Platz zu bekommen. Ihr Ehemann bekam nach drei Monaten Hausverbot ein Besuchsrecht zugesprochen, um die Kinder zu sehen. Nach neuen Drohungen und Schlägen wurde der Mann wieder der Unterkunft verwiesen. Samiras Familie schaltete sich aus der Ferne ein. Sie solle sich ein anderes Wohnheim suchen, um dort wieder mit ihrem Mann zu leben.
Die Wohnungsvermittlung könne nichts tun
Anfang Januar 2016 gehen Samira und ich noch einmal zur Wohnungsvermittlung, um herauszufinden, warum sie nicht umziehen darf. Ich stelle mich früh in die lange Warteschlange, damit Samira ihre Kinder in den Kindergarten bringen kann und trotzdem die Chance auf einen Termin hat.
Inguschetien
Man nennt die Inguschen die „kleinen Brüder der Tschetschenen“. Sie sind in Sprache, Kultur und einer leidvollen Geschichte der Deportation und Verbannung unter Stalin eng miteinander verwandt. Innerhalb der Sowjetunion waren sie in der Tschetscheno-Inguschischen ASSR vereint.
Schließlich erscheint eine Frau auf dem Flur. Sie wirkt übermüdet, ist aber sehr freundlich. Ja, sagt sie, es tue ihr leid. Sie erinnere sich an Samiras Fall, doch sei ihre Akte wohl in einer anderen Behörde. Es gab eine Umstrukturierung, der Krankenstand unter den Verwaltungsangestellten sei hoch – momentan könne sie nichts weiter dazu sagen. Sie verspricht, sich zu erkundigen und mich am nächsten Tag anzurufen. Samira ahnt schon, dass sich niemand melden wird.
Beim Bäcker an der U-Bahn trinken wir noch rasch einen Kaffee. Ich will Samira nicht immer mit Fragen zu ihren Problemen löchern und frage stattdessen nach ihrer Schulzeit. Sie gibt mir zu verstehen, dass andere sich vielleicht nach ihrer Kindheit zurücksehnen, sie ganz bestimmt nicht.
Mit der Trennung hat sie ihren Fluchtgrund verloren
Ihre Familie ist arm, wie die meisten in Inguschetien. Besonders schlimm aber war, dass Samiras Vater die Mutter mit Gewaltausbrüchen und Schlägen traktierte, seit sie denken kann. Als älteste Tochter kümmerte sie sich um die kleineren Geschwister und den Haushalt. Die Schule war ihr Lichtblick, sagt sie. Das Lernen fiel ihr leicht, und sie träumte von einem Studium. Eines Tages, sie war 16 Jahre alt, stand ein junger Mann vor dem Schulgebäude und unterhielt sich mit ihrem Bruder. Zwei andere stießen dazu. Sie schickten ihren Bruder unter einem Vorwand fort, zerrten Samira in ein Auto und verließen die Stadt. Am nächsten Tag rief der junge Mann bei Samiras Eltern an. Die Hochzeit wurde verhandelt. Ihre Familie sah Samira erst bei den Feierlichkeiten wieder. Später, als sie Kinder hatte, musste sie sie beim Vater lassen, wenn sie ihre Mutter besuchen wollte. – All das sei nicht außergewöhnlich, sagt sie, „das ist bei uns so“.
Die Fotografin
###drp|4lI7hA8AlHXSFgfPVleXVwLp00071099|i-43||###Valerie Schmidt, Jahrgang 1982, gefiel an Samira, dass sie sich trotz schrecklicher Erfahrungen ihre Herzlichkeit erhalten hat
Ich rufe Samira an und berichte zerknirscht. Sie entgegnet wortkarg, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung in sechs Wochen ausläuft. Sie hat Angst, zur Ausländerbehörde zu gehen. Andere Flüchtlinge hätten statt einer Verlängerung eine Aufforderung zur Ausreise bekommen. Ich mutmaße, dass deren Situation eine andere war. Samiras Mann hat aufgrund seiner gesundheitlichen Situation bereits ein befristetes Aufenthaltsrecht in Deutschland zugesprochen bekommen. Warum sollte es seiner Frau und den Kindern verwehrt werden? – „Weil ich getrennt bin.“
Um die Rechtslage zu verstehen, wende ich mich an einen Anwalt. Samira hat mit der Trennung von ihrem Mann tatsächlich ihren Fluchtgrund verloren. Sie selbst leidet nicht an den Folgen von Verschleppung und Folter und auch politisch droht ihr persönlich in der Heimat keine Verfolgung. Es wird schwer nachzuweisen sein, dass ihr in Inguschetien Gefahr droht. Dass sie bei uns Schutz braucht und eine eigene Aufenthaltserlaubnis.
Ohne Aufenthaltsgenehmigung kein Deutschkurs
Samira ist Bürgerin der Russischen Föderation, deren Verfassung die Gleichberechtigung von Mann und Frau garantiert. Das Gewohnheitsrecht, das unter anderem dem Mann die Kinder generell zu- und der Frau jedes Recht abspricht, nehmen die Behörden der Föderation aber als kulturelle Eigenheit der Inguschen und Tschetschenen hin. Ich verlasse ernüchtert die Kanzlei. Jetzt erst begreife ich, dass die Wohnung eine wichtige Etappe ist, aber längst nicht das eigentliche Ziel.
Ende Januar erhält Samira plötzlich die Aufforderung, bis zum Monatsende die Sammelunterkunft zu verlassen. Die Behörde übernimmt die Kosten für die neue Wohnung. Innerhalb von wenigen Tagen zieht Samira um. Erschöpft und erleichtert verbringt sie die Berliner Winterferien Anfang Februar in den ersten eigenen vier Wänden ihres Lebens.
Es ist ruhig und idyllisch dort am Stadtrand. Schnell holt der Alltag sie ein. Schule und Kita sind nicht leicht zu erreichen. Samira übt das Busfahren und Umsteigen mit den Kindern. Die Busfahrkarten bekommt sie nur mit einem Ausweis, den Ausweis nur mit einer Meldebescheinigung, die Bescheinigung nur mit einem Termin bei der Meldebehörde – und Termine dauern. Und dann muss die Ausländerbehörde ihre Aufenthaltsgestattung verlängern. Für Samira beginnt erneut eine Odyssee durch die Wartesäle der Ämter. Die inoffiziellen Kurse der Ehrenamtlichen hat sie längst absolviert. Nun braucht sie einen offiziellen Deutschkurs für Fortgeschrittene. Doch der steht ihr erst zu, wenn das Verfahren abgeschlossen ist. Ohne Aufenthaltsgenehmigung kein Integrationskurs, keine Ausbildung, keine Arbeit, von einem Studium ganz zu schweigen.
„Was passiert, wenn du zurück musst?“– „Dann muss ich meine Kinder an die Familie von meinem Mann geben.“ – „Und was wird mit dir?“ – Samira zuckt mit den Schultern. „Wenn ich Glück habe, suchen die einen alten Mann für mich zum Heiraten und zum Pflegen.“ Samira nimmt jede Hilfe von Beratern und Juristen an. Sie will sich, so gut es geht, auf den Tag der Anhörung vorbereiten.
Das Verfahren kann sich hinziehen. Aber wenn es so weit ist, muss Samira vor Gericht ihre Situation so darlegen, dass die Richterin oder der Richter versteht, was ihr in Inguschetien droht. Wird man ihr glauben, dass ihr Leben in Inguschetien gefährdet ist? Oder wird man in der Urteilsbegründung auf kulturelle Eigenheiten in den nordkaukasischen Republiken verweisen und ihr den Aufenthalt in Deutschland verweigern? Das liegt ganz im Ermessen des Gerichts.