An einem Ritual wurde noch nie gerüttelt. In der Wohngemeinschaft wird jeden Tag zusammen mittaggegessen. Punkt zwölf sitzen sie am Küchentisch. Jeder ist mal mit Kochen dran, am besten schmeckt es allen, wenn das Helga Adler übernimmt. Dann gibt es Hausmannskost, dicken Eintopf oder Kassler mit Kohl. Erst wird gespeist, dann über den Tag geschwatzt. Wie das in einer Familie üblich ist. Und sie sind eine Familie, eine gute sogar, so sehen sie sich, auch ohne Blutsverwandtschaft.
Für andere sind sie ein Vorzeigeprojekt. Die Rentner-WG aus dem Gorbitzer Hochhaus, mitten im größten Dresdner Plattenbaugebiet. Fünf Senioren teilen sich den Alltag, weil Altern in Einsamkeit keine Perspektive für sie ist. Das Ehepaar Adler, beide Anfang 80, wohnt schon seit 17 Jahren hier. Die anderen sind nach und nach dazugezogen. Die älteste Mitbewohnerin ist 95, Monika Haberlandt mit 59 die jüngste. Eigentlich war ihre Gruppe noch größer, aber ein Mitbewohner ist gestorben, eine Frau zu einer späten Liebe gezogen. Die beiden Zimmer standen zuletzt leer.
Bis die Rentner von neuen Mitbewohnern überrascht worden sind. Von Jasmin aus Somalia und Momena aus Eritrea, die eine kam hochschwanger, die andere mit einem neugeborenen Baby auf dem Arm.
Die Autorin
###drp|LaYyAN9vnMSX8OkLgVsgMu3300134690|i-43||###Doreen Reinhard, 1979 in Dresden geboren, bemerkte, dass alle Rentner gleich hilfsbereit waren – egal ob bibelfest oder dem DDR-Atheismus treu geblieben.
Die WG-Bewohner erinnern sich daran, dass in der vorletzten Juliwoche ein Maler vorbeikam, um die beiden leeren Zimmer zu streichen. Seltsam fanden sie das nicht. „Wir hatten das beim Vermieter schon ein paar Mal angeregt, damit die Räume attraktiver für neue Mieter werden“, erzählt Adler. „Wir dachten, dass der Handwerker aus diesem Grund da ist.“
Wenig später, am 30. Juli, Helga Adler war allein zu Hause, gab es morgens Unruhe. „Zwei Herren hatten mit eigenen Schlüsseln unsere Eingangstür aufgeschlossen und standen plötzlich im Flur. Sie sagten, dass sie von der Stadt kämen und sich die beiden leeren Zimmer ansehen wollten“, erzählt sie. „Nebenbei ließen sie die Bemerkung fallen, dass dort Flüchtlinge einziehen.“ Mehr erfuhr sie nicht. Weder wie viele Menschen kommen, noch wann sie einziehen. Kurz darauf traf eine Möbellieferung ein. Tische, Stühle, Betten, Küchengeräte, Geschirr und Bettwäsche wurden in die Zimmer geschafft.
"Wir hatten Angst, es kämen acht junge Männer"
Auch an diesem Tag haben sich die fünf zum Mittagessen getroffen, es gab Kochfisch mit Petersiliensoße, aber fürs Essen hat sich niemand interessiert. Die Stimmung am Tisch war aufgewühlt. „Wir waren entsetzt, weil wir nicht wussten, was passiert“, erzählt Helga Adler. Sie saßen da, ohne Informationen, und versuchten, sich vorzustellen, was auf sie zukommen könnte. „Wir hatten Angst, dass in jedes Zimmer acht junge Männer einziehen“, sagt Monika Haberlandt. Die Ungewissheit war das eine, noch mehr aber ärgerte sie die Überrumplungsaktion. „Man hätte uns die Leute doch vorstellen können“, schimpft Gottfried Adler. „So etwas haben wir in all den Jahren nicht erlebt.“
Die Gorbitzer Wohngemeinschaft gibt es seit 1998. Gegründet hat sie der Verein Alt werden in Gemeinschaft (AWIG). Er kümmert sich um das Zusammenleben, Vermieter der etwa 400 Quadratmeter großen Wohnung ist er nicht. Das war anfangs die Dresdner Woba, später die Gagfah, die wiederum seit kurzem zum Konzern Vonovia gehört.
Für die Rentner blieben die Bedingungen trotz aller Wechsel gleich. Mit dem Vermieter hat jeder Mitbewohner einen eigenen Mietvertrag. Es gibt Gemeinschaftsräume, für die alle einen Anteil zahlen: Küche, Stube mit Zugang zum Garten, einen großen Flur, separate Toiletten. Jeder bewohnt zudem ein Einraumapartment mit Bad und schmaler Küchenzeile.
Es ist eine besondere WG, für die Rentner die perfekte Kombination aus Privatsphäre und Gemeinschaft. Auch ihre individuellen Mietverträge haben sie immer als Vorteil gesehen, denn so mussten sie nicht für die Miete der beiden leeren Zimmer zusammenlegen. Nachfolger hatten sie zwar gesucht, aber noch keine gefunden. „Mit dem Vermieter gab es die Vereinbarung, dass wir Vorschläge machen können“, sagt Gottfried Adler. „Das war nicht niedergeschrieben, aber so wurde es immer gehandhabt.“ Nun war diese Regel außer Kraft gesetzt.
"Wir hätten uns einen Termin zum Kennenlernen gewünscht"
Am 4. August kam Jasmin an. „Wieder ging der Schlüssel in der Eingangstür, sie stand da, hochschwanger, zwei Freundinnen halfen, ihre Taschen zu tragen“, erzählt Helga Adler. Ihr Mann legte den anderen Zettel vor die Zimmertüren, darauf stand „Jasmin ist da“, damit niemand erschrickt, wenn er auf dem Flur eine Fremde trifft. Acht Tage später zog Momena ein. „Sie stand wie die Jungfrau Maria in der Wohnung“, erinnert sich Monika Haberlandt. „Mit einem Säugling, der in Windeln gewickelt war.“
###drp|5Ou8tKzf1qIVebYTvg6lBbJE00118166|i-40||###Mehr zum großen Thema Migration und Flüchtlinge in Deutschland finden Sie auf unserer Schwerpunktseite: chrismon.de/fluechtlinge
Eine schriftliche Antwort habe er nie bekommen. Auch sei in all den Monaten kein Mitarbeiter der Immobilienfirma in der WG persönlich vorbeigekommen, um über die plötzliche Belegung zu sprechen. Am 31. Juli habe lediglich eine Kundenbetreuerin bei ihm zurückgerufen.
„Sie hat mir bestätigt, dass bei uns Flüchtlinge einziehen. Und dass es junge Menschen sind, die für uns bestimmt eine Bereicherung sein würden“, sagt Adler.
Die Gagfah teilte indes auf Anfrage mit, dass man die leeren Zimmer in der Wohngemeinschaft als Flüchtlingsunterkunft an die Stadt Dresden vermietet habe. Diese Entscheidung sei „Ende Juni, Anfang Juli 2015“ getroffen worden. Die Pressestelle der Stadt Dresden bestätigte den Vorgang. Gagfah-Sprecherin Bettina Benner erklärte außerdem: „In dieser Zeit haben wir mit einem Bewohner über das Thema gesprochen und ihm unsere Entscheidung mitgeteilt. Gleichzeitig haben wir darum gebeten, die anderen Bewohner der Wohngemeinschaft darüber zu informieren.“
Erst den Kleiderschrank aus- und dann wieder eingeräumt
Die Rentner sind über diese Aussagen empört. „Das stimmt einfach nicht. Uns hat definitiv niemand vorher Bescheid gesagt“, sagt Gottfried Adler. Auch Ulrich Zell, Vorstandsvorsitzender des Vereins AWIG, reagiert entsetzt: „Weder die Bewohner noch unser Verein wurden informiert. Erst nachdem die Flüchtlinge bereits in der Wohnung standen, hat sich jemand von der Gagfah gemeldet. Eine Frau, die wir nicht kannten, entschuldigte sich verdruckst, dass das alles ja nicht so gut gelaufen sei.“ Zell ist sich des juristischen Dilemmas bewusst. „Die Zimmer standen länger leer und gehören der Gagfah. Die Rentner haben offiziell kein Mitspracherecht, aber der Umgang mit ihnen war unmöglich.“
Eine Ausnahme ist der Vorfall nicht. In einer anderen WG des Vereins in einem anderen Dresdner Stadtteil wurden von der Gagfah ebenfalls Flüchtlinge in leere Räume einquartiert, eine albanische Familie und zwei Palästinenserinnen. In beiden Fällen gibt es keine Chance auf Widerspruch, also blieb nur die Alternative: zusammenleben.
Das sehen auch die Gorbitzer Rentner so. Sie waren frustriert, zornig, wütend – und hätten es bleiben können. Aber sie setzten die Geschichte anders fort. Sie verschränkten nicht trotzig die Arme, sondern öffneten sie. Wie man aufeinander zugeht, wusste niemand. „Im Flur steht ein Kleiderschrank von mir, den habe ich in der ersten Woche ausgeräumt. Ich wusste ja nichts von den Leuten“, gesteht Monika Haberlandt. In der zweiten Woche räumte sie ihn wieder ein. Ihr Instinkt sagte ihr: Das sind Menschen, von denen sie nichts zu befürchten hat. Im Gegenteil, die beiden Frauen brauchten offensichtlich Hilfe.
Die Rentner boten sich beherzt an. Beim Anschließen der Waschmaschine, beim Erklären der Hausordnung, beim Einräumen der Zimmer. Sie zeigten, wo man gespendete Kleidung bekommt, und organisierten selbst Spenden. Kinderwagen, Kinderbadewannen, Fernseher für die Zimmer. Und sie sorgten sich. Momena war nach ihrer Ankunft krank, ihre Kaiserschnittnarbe schlecht verheilt. „Sie hat geweint und sich den Bauch gehalten“, erzählt Monika Haberlandt. Außerdem war da ja noch Jasmin, deren Bauch immer dicker wurde. Im Oktober hat sie eine Tochter bekommen.
"Die Menschen hier in der WG haben mir so viel geholfen"
Die Rentner helfen, obwohl sie niemand gefragt hat. Viel wissen sie über ihre neuen Mitbewohnerinnen noch immer nicht. Die Kommunikation ist ein Problem. Selbst Momena und Jasmin können sich nur schwer miteinander verständigen. Gelegentlich kommt eine Sozialarbeiterin vorbei, die das Wichtigste übersetzt. Dass die Adlers für Jasmins Zimmer eine Gardinenstange organisiert haben und für Momena einen Holzkeil, damit sie nicht mehr die Kehrschaufel in die Tür klemmen muss, wenn sie mit dem Kinderwagen hinauswill.
Und neue Teppiche, damit die Babys es warm und weich haben, wenn sie ins Krabbelalter kommen. Alltags-ABC, ein notdürftiges Hin und Her, solange die Afrikanerinnen noch kein Deutsch sprechen. Auch dafür versuchen die Senioren eine Lösung zu finden. Sie haben organisiert, dass eine Frau aus ihrem Verein regelmäßig zum Unterricht vorbeikommt. Dann sitzen alle zusammen in der Stube, die alten und die neuen Bewohner. Nur langsam erfahren sie ein paar Bruchstücke vom Leben der anderen.
Beide Frauen sind 20 Jahre alt. Jasmin erzählt, dass sie Somalia bereits vor längerer Zeit verlassen habe. „Zu Hause gab es große Probleme“, sagt sie, mehr will sie darüber nicht erzählen. Seit über einem Jahr ist sie in Dresden und wartet darauf, dass ihr Asylantrag bearbeitet wird. Untergebracht war sie bisher in einer Wohnung mit fünf anderen Frauen. „Weil ich schwanger war, wurde mir dieses Zimmer hier zugewiesen“, sagt sie. „Das war eine positive Überraschung. Die Menschen haben uns schon so viel geholfen.“
Auch für Momena ist die Senioren-WG ein Ruhepunkt nach einer Odyssee. Ihre Flucht aus Eritrea habe monatelang gedauert und endete vorerst in einer Chemnitzer Erstaufnahmeeinrichtung. „Die Bedingungen waren schlecht. Meine Schwangerschaft verlief kompliziert“, erzählt sie. Entbunden hat sie in einer Chemnitzer Klinik, kurz darauf kam die Nachricht, dass sie nach Dresden umziehen soll. Wohin genau, wusste Momena nicht. „Ich bin mit dem Bus zum Sozialamt nach Dresden gebracht worden. Von dort ging es mit einem Taxi zur Wohnung. Ich hatte Angst, weil ich schwach und allein war. Ich hatte nur einen Wohnungsschlüssel, ein Baby und nichts weiter.“
Gedanken, wie man helfen könnte, machen sich inzwischen auch die Flüchtlinge
Inzwischen wohnen auch Gemal und Nashi bei ihnen, die Väter ihrer Kinder. Die beiden Paare leben zurückgezogen, verbringen viel Zeit in ihren Zimmern. Oft hören die Rentner keinen Mucks von ihnen. „Sie haben einen anderen Tagesablauf. Wir stehen früh auf, ihr Tag beginnt spät. Aber alles verläuft sehr rücksichtsvoll“, sagt Monika Haberlandt. „Nach der ersten Aufregung hat sich alles gut eingependelt.“
Die beiden Welten sind sich noch fremd, aber es gibt Annäherungen, viel mehr als die Erklärungen, wie der Haushalt funktioniert. Als ihr Sohn Bilal 40 Tage alt war, hat Momena zu einem Fest geladen, so ist es in ihrem Land Tradition. Natürlich waren alle eingeladen. Sie hat einen besonderen Draht zu Monika Haberlandt, abends tauschen sie Essen aus. Momena bringt afrikanische Häppchen vorbei, Monika revanchiert sich mit deutscher Kost.
Die Rentnerrituale gibt es nach wie vor, auch das Mittagessen Punkt zwölf Uhr. Stube, Flur und Garten stehen allen offen, nur die Küche ist nach wie vor die kleine Insel der Senioren. Hier wird über dies und das gesprochen, über den Speiseplan für die nächsten Tage, die Schnäppchen auf dem Wochenmarkt und die leidigen Arztbesuche.
Die neuen Mitbewohner sitzen normalerweise nicht mit am Tisch, aber sie sind ein Dauerthema. Die Rentner nennen sie inzwischen „unsere Flüchtlinge“ und machen sich ständig Gedanken, wie sie helfen können. „Wenn ich abends im Bett liege, geht mir so viel durch den Kopf“, sagt Helga Adler. „Was man noch machen könnte, um ihnen Deutsch beizubringen.“
Gedanken, wie man helfen könnte, machen sich inzwischen auch die Flüchtlinge. Gottfried Adler, der einen schweren Bandscheibenvorfall hatte, soll sich eigentlich schonen. Manchmal vergreift er sich aber doch an vollen Mülleimern und Wäschekörben, allerdings bekommt er sie sofort wieder abgenommen. Diese Jobs in der Rentner-WG haben die jungen Mitbewohner längst ohne große Worte übernommen.