Sankt Andreasberg
Eines erscheint vielen in St. Andreasberg sicher: Während die Urlauber nur kurz bleiben, wird das mit den Flüchtlingen eine längere Geschichte
Joanna Nottebrock
Geht’s jetzt bergab mit der Stadt?
In Sankt Andreasberg im Oberharz leben seit Oktober 1500 Flüchtlinge – bei 1600 Einwohnern. Zu viele für den kleinen Luftkurort, sagen die einen. Endlich wieder Arbeit, sagen die anderen
Joanna Nottebrock
07.01.2016

Acht Jahre stand die Rehbergklinik leer. Bis dahin war sie mit 120 Beschäftigten eine Hauptarbeitgeberin für Sankt Andreasberg. Für dieses Jahr war Großes geplant: ein Fünf-Sterne-Resort im St.-Moritz-Stil mit Golfplatz und eigenem Reitstall. Doch statt zahlungskräftiger Touristen ­kamen Flüchtlinge, Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und dem Iran. Im Oktober hatte das Land Niedersachsen über Nacht das Objekt als Erstaufnahme angemietet. Eine Notmaßnahme, um das Erstaufnahmelager in Friedland zu entlasten und winterfeste Quartiere für die vielen Menschen zu schaffen.

Kein wirklich guter Start für die einheimische Bevölkerung. Bevor sie überhaupt etwas erfuhr, waren bereits Hunderte Flüchtlinge in die ehemalige Kurklinik der Rentenversicherung einge­zogen. Und so ging es hoch her bei der ersten Bürgerversammlung drei Tage später. 400 bis 500 Leute sollen sich in den Kursaal des Ortes gequetscht haben. „So viele wie noch nie“, sagt Angelika Reichert, die seit vielen Jahrzehnten in St. Andreasberg lebt. „Die Stimmung ging von ‚Wir können die Kinder nicht mehr auf die Straße lassen‘ bis zur Angst vor Seuchen und Krankheiten.“ Eigentlich hätten bei der Versammlung immer wieder die ­Gleichen lautstark das Wort ergriffen.

Die Partei Alternative für Deutschland (AfD) schrieb auf ihre Internetseite, alle Andreasberger könnten sich mit ihren juris­tischen Klageplänen gegen das Heim vertrauensvoll an sie wenden. Und dann sah man die Leute doch in den nächsten Tagen  zur Klinik hochfahren, auch einige von denen, die am lautesten geschimpft hatten, den Kofferraum voll mit Kleiderspenden und Spielzeug, um zu schauen, ob man helfen kann.

„Die meisten hier sagen inzwischen: Die Menschen, die ­kommen, die können nun wirklich nichts dafür.“ Angelika ­Reichert ist eine Andreasberger Institution, auch wenn sie erst als junges Mädchen von Norddeutschland in den Harz kam. Wer ihr einen Brief schreibt, kann sich an ihren Spitznamen halten: „Pulle, Andreasberg, das kommt an.“ Bei der Harzer Mundartgruppe hat sie mitgeübt, und wenn die „TTT“, die „Tanz- und ­Theatertruppe“, des Ortes einen Auftritt hat, ordert sie die Getränke und kümmert sich um die Theaterbar.

Gefährden die Flüchtlinge den Tourismus? - "Für uns nicht"

Gemeinsam mit ihrem Mann Wilfried, einem gebürtigen Andreas­berger, bewohnt sie ein Bergarbeiterhaus aus dem 18. Jahrhundert im Zentrum. Seit dem 16. Jahrhundert schürfte man in St. Andreasberg nach Silber. Als der Bergbau sich nicht mehr rechnete, rettete der Tourismus die Region. Bis heute ist der Ort in etwa 600 Meter Höhe im Winter halbwegs schneesicher. Doch wenn kein Schnee fällt oder zu spät im Jahr, nach Ostern, dann bleiben die Gäste weg. Seit vielen Jahren ist das so, jede Saison eine Zitterpartie.

Hobbyastronomen haben St. Andreasberg vor einigen Jahren für sich entdeckt. Hier ist es nachts stockfinster, fernab von der Zivilisation haben sie hier eine unbehelligte Sicht auf die Sterne.

Hört man abends den Männern in der Kneipe „Zum Stollen“ zu, dann wird wie überall viel geschimpft, über VW, die Flüchtlinge und den Großhotelier des Ortes, der jetzt das große Geld einstecke. Ein Tourist berichtet, er habe sich auf seiner Wanderung heute sehr interessant mit einem persischen Hautarzt unterhalten. Solche Begegnungen habe es hier früher nicht gegeben.

Die Autorin

###drp|MttNmyig0UBra4obP0H0wEr000132596|i-43||###Kirsten Wenzel, Jahrgang 1968, ist im Oberharz geboren. Sie war beeindruckt, mit wie viel Tatkraft, Realismus und Heimatliebe sich die Menschen dort den Aufgaben stellen.

Ein älterer Mann ruft mit Tränen in den Augen: „Andreasberg geht endgültig den Berg runter!“ Früher träumte er davon, einmal die Buchhandlung im Ort zu übernehmen. Doch schon vor vielen Jahren ist er nach Braunschweig gezogen, kommt nur noch in den Ferien zu Besuch. Dass die Rehbergklinik geschlossen wurde, obwohl sie bis zum Schluss schwarze Zahlen geschrieben habe, kann er – wie viele im Ort – nicht begreifen. 2011 kam auch noch die Eingemeindung ins zwölf Kilometer entfernte Braunlage. Eine Schmach. Und jetzt? Darüber möchte er gar nicht erst sprechen, zu groß ist der Schmerz über das, was nicht mehr so ist, wie es einmal war.

Anfang November meldete „Spiegel online“, der Bürgermeister von Börgerende-Rethwisch an der Ostsee wolle in seiner Gemeinde keine Flüchtlinge haben. Sie könnten die Feriengäste abschrecken. Auch das Straßenbild von St. Andreasberg hat sich verändert. Nicht da, wo die meisten Hotels und Pensionen liegen, an den grünen Rändern des Ortes, meist mit schöner Sicht über die Bergwiesen, sondern auf der Hauptstraße. Vor dem Blumenladen und dem Zeitungskiosk von Karl-Heinz Brockschmidt telefo­nieren gelegentlich ein paar Frauen mit Kopftüchern und Männer auf Arabisch. Gefährden sie den Tourismus? „Für uns nicht“, sagt Brockschmidt, im Gegenteil, sie steigern den Umsatz. „So viele Wasserkocher wie in der letzten Woche habe ich seit Jahren nicht verkauft.“ Der Zeitungshändler und seine Tochter Claudia helfen, vor allem beim Anmelden der neuen SIM-Karten.

"Wir sind Gastgeber - auch für die Flüchtlinge"

Die Stimmung im Ort, sagen viele, sei gespalten. Einige freuen sich, etwas für die neuen Mitbürger tun zu können, andere ziehen sich ängstlich zurück. Lauten Streit finde man kaum, so ist der Oberharzer eben. Die Jüngeren tauschen sich per Whatsapp und Facebook aus, berichtet Anica Jaceck, die sich ehrenamtlich engagiert. Als sie eine syrische Mutter mit ­ihrem Kind nach Hause eingeladen habe, gab es böse Kommentare. ­„Eine Bekannte war echt fassungslos, dass ich so was mache.“

Ein Gastronom, der anonym bleiben will, erzählt: „Es ist einfach ein komisches Gefühl, wenn du allein im Laden bist und zehn, zwölf junge Männer kommen gleichzeitig rein und be­stellen auch noch Alkohol. Das lief dann alles sehr gesittet ab, jeder trank ein Glas Wein, sie haben sich unterhalten. Aber was wäre gewesen, wenn nicht?“ Wenn er sieht, wie die Flüchtlingsgruppen durch den Ort gehen und auf Häuser zeigen, „dann denke ich manchmal, die wollen das hier alles übernehmen. Und wir können uns nicht wehren.“

Mehr zum Thema

###drp|5Ou8tKzf1qIVebYTvg6lBbJE00118166|i-40||###Mehr zum großen Thema Migratio​n und Flüchtlinge in Deutschland finden Sie auf unserer Schwerpunktseite: chrismon.de/fluechtlinge

Auch Skiliftbetreiber Karsten Otto sorgt sich. Nicht so sehr wegen der Menschen, die jetzt da sind. Sondern wegen derer, die vielleicht gar nicht erst kommen. „Wer in einer Tourismusregion lebt, der weiß, dass da jeder Einfluss von außen hochsensibel zu betrachten ist. Das ist für uns alle ganz neu. Wir wissen einfach nicht, was uns erwartet.“

Bleiben die Gäste in diesem Winter spürbar weg? Stornierungen gab es bisher keine, erklärt Margrit Kahlert von der ­Touristeninformation. „Die Leute am Telefon haben Verständnis und sagen: Bei uns in der Großstadt ist es auch so.“ In St. Andreasberg habe man sich innerhalb der Tourismusbetriebe schnell geeinigt: Bloß keine Bilder wie in Dresden! Keine Klagen von Eigentümern wie in Hahnenklee, wo Inhaber von Ferienwohnungen vor Gericht darüber streiten, ob Flüchtlinge in ihrer Anlage unterkommen dürfen. „Wir sind Gastgeber, und auch die Flüchtlinge sind für uns Gäste.“

Gemeinsames Spielen von einheimischen und zugezogenen Kindern

Margrit Kahlert denkt eher langfristig und kann so dem plötzlichen Zuzug Gutes abgewinnen. „Die vielen Vereine, der Bäcker, der Schlachter, alle hier haben Nachwuchssorgen.“ Lehrstellen bleiben oft unbesetzt, die örtliche Grundschule ist schon länger von Schließung bedroht. Auch die Hoteliers und Restaurants aus Braunlage haben signalisiert, sie wollten Flüchtlinge einstellen. „Sicher werden nicht alle in der Region bleiben, aber wenn einige Familien hier Fuß fassen würden, das wäre doch für alle ein Gewinn.“ Und Clausthal-Zellerfeld, 20 Kilometer entfernt, hat eine gute und internationale Universität. Ein ordentliches Abitur kann man dort auch machen. „Der Harz wird jünger und Andreasberg bunter, das kann doch nur gut sein!“, findet Kahlert.

Walter Merz, der Pfarrer der örtlichen Martini-Gemeinde, ist deutlich skeptischer. Er engagiert sich, hilft, wo er kann. Dennoch will er die Hoffnungen nicht allzu hochfliegen lassen. „Ich möchte, dass wir das hier jetzt erst einmal gut zusammen hinbekommen.“ Gemeindemitglieder ­organisieren die Kleiderkammer in der Flüchtlingsunterkunft und haben ein Spielzimmer für die Kinder eingerichtet. Die ­ehrenamtlichen Helfer haben damit begonnen, ihre Kinder mitzubringen. Beim gemeinsamen Spiel entstehen erste zarte Verbindungen. Das soll, wenn es nach ihm geht, alles schön langsam und beständig wachsen.

Dass die Flüchtlinge im großen Stil helfen werden, die Be­völkerung im Harz zu verjüngen, glaubt Merz nicht. „Immer wieder heißt es, der Harz muss jünger werden. Ich fürchte, wir müssen lernen, mit dem Älterwerden der Region gut zu leben. Es wird nicht mehr, wie es einmal war.“ Auch die Flüchtlinge würden weiterziehen, sobald sie können, wie die anderen jungen Menschen. Im vergangenen Jahr habe er zwölf Kinder kon­firmiert, drei davon seien inzwischen in die Stadt gezogen. „Das Problem hier in der Region ist nach wie vor die fehlende Arbeit.“

Immerhin: Einige Jobs entstehen zurzeit wieder – in der Rehbergklinik. Etwa 80 neue Stellen werden besetzt, gesucht sind vor allem Erzieher, Sozialarbeiter, Übersetzer. Auch für Leute ohne diese Abschlüsse finden sich in der Flüchtlingsunterkunft einige Jobangebote, versichert der Arbeiter-Samariter-Bund.

Lieber selbst kochen als sich bedienen lassen

Oben auf dem Berg hat Familie Agha aus Syrien vor wenigen Tagen ein Zimmer bezogen. Zwei Erwachsene und fünf Kinder teilen sich ein Doppelzimmer. Sie haben Matratzen nebeneinandergelegt, ihre Kleidung bewahren sie in Tüten auf. Fakhreddin, der älteste Sohn, öffnet die Tür in das kleine Reich der Familie. Seine Mutter Marwa Agha erzählt, ein Security-Arbeiter übersetzt. Ihre Kinder seien seit drei Jahren nicht zur Schule ge­gangen. Ihr Drittältester, Gaith, verstecke sich im Bad, wenn ein Luftballon platzt; er erstarre in kalter Panik, wenn der zu scharf eingestellte Feueralarm der Flüchtlingsunterkunft losgeht.

„Seit drei Jahren laufen wir vor dem Krieg davon. Als unser Haus in Aleppo zerbombt wurde, sind die Kinder einfach so durch die Luft geflogen. Wir haben kein Geld mehr, die Flucht hat alles verbraucht.“ Dankbar seien sie für das Essen, auch wenn sie lieber selber kochen würde, als sich bedienen zu lassen; froh darüber, dass die Erzieherinnen mit den Kindern spielen, und über die ersten improvisierten Deutschstunden in der Unterkunft.

Die Fotografin

###drp|tkiOc5ke9bLPwfY0TouG7z0q00132597|i-43||###Joanna Nottebrock, 1976 geboren, wünscht sich jetzt auch in Berlin mehr Empathie für die Flüchtlinge – und mehr Begegnung  mit ihnen.

Aber ungeduldig warten sie, wie alle im Flüchtlingslager, auf die Ankunft der Landesbeamten, um endlich einen Asylantrag stellen zu können. Wollen die Aghas im Harz leben? Marwa Agha schaut erstaunt: „Können wir uns das denn aussuchen?“ Ihr Mann Mohammed Agha sagt: „Ich würde jede Arbeit annehmen, überall in Deutschland.“ Etwas aufbauen möchte er und später wieder selbstständig werden wie in Aleppo, wenn er das Geld dafür zusammen hätte. Anders als manche ihrer Landsleute haben sie keine Familie in einer anderen deutschen Stadt.

Sechs Monate können die Flüchtlinge in der Erstaufnahme bleiben, bevor sie in die niedersächsischen Kommunen weitervermittelt werden, in Wohnungen oder Wohnheime. Wohin und wie genau das Land darüber entscheidet, ist offen. Klar ist nur: Die Städte sind voll. Für zunächst neun Monate hat Niedersachsen die ­Rehbergklinik gemietet. Nun kommt die Wintersaison und mit ihr der Schnee, die Feriengäste – oder eben auch nicht. Wie viele genau, das wird die Bilanz am Ende der Saison zeigen. Zumindest eines erscheint vielen in St. Andreasberg jedoch sicher: Während die Urlauber nur kurz bleiben, wird das mit den Flüchtlingen eine längere Geschichte.

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Wertes Chrismon-Team,

wieder mal eine schöne Ausgabe. Die  Geschichte aus dem Harz finde ich sehr anrührend. So manchen anderen Beitrag lese ich auch noch :-)

 

Beste Grüße

Thorsten Winter, Abonnent

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Die St. Andreasberger bemühen sich wirklich, aber leicht ist es nicht. Obwohl auch von den benachbarten Orten viele Sachspenden eingehen mangelt es z. Bsp. an Winterschuhen für die Flüchtlinge, gerade jetzt wo es geschneit hat und in der nächsten Woche noch mehr Schnee erwartet wird. Es werden mittlerweile Schuhe dazu gekauft von Spendengeldern (ein Paar für Frauen kosten 9 Euro, ein Paar für Männer 14 Euro), aber es reicht bei weitem nicht aus. Dankenswerterweise hat die Kirchengemeinde St. Andreasberg ihr Konto für Spenden zur Verfügung gestellt. Wer gerne helfen möchte möchte, kann dies mit einer Spende bei der Sparkasse Goslar / Harz, Konto-Nr. 9746, IBAN: DE25 2685 0001 0000 009746, BIC: NOLADE21GSL tun. Bitte unbedingt mit angeben: Kirchengemeinde St.Andreasberg, mit dem Kennwort: "Kleiderkammer Flüchtlingshilfe, St. Andreasberg". Wichtig dabei Kleiderkammer mit anzugeben. Sonst wird es für andere Dinge verwendet. Sollte also jemand von den Lesern hier den Wunsch haben die St. Andreasberger in ihrem Engagement zu unterstützen ... alle ehrenamtlichen Helfer und Angestellten der Kleiderkammer wären von Herzen dankbar dafür. Grüße aus dem winterlichen St. Andreasberg Gabriele Raschke

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Die Flucht von Ulrich Siegers

Fernab, noch hinterm Türkenlande,

regiert ein Fürst mit seiner Bande.

Man schlägt sich durch von Tag zu Tag

und harrt drauf, was da kommen mag.

 

So geht‘s auch einem braven Mann,

der macht halt, was er machen kann.

Jung Ali näht auf seiner Singer

und denkt an keine krummen Dinger.

 

Seit Jahren aber wird es schlimmer,

bald hört man überall Gewimmer,

man hört von Krieg nah im Irak

dass vorher, schien’s, noch ferne lag.

 

Man hört vom Ami und vom Russ‘,

von Briten und vom Saudius

und alle schleppen Waffen her,

auch Deutsche taten es gar sehr.

 

Fürst Assad steigt dies übern Kopf,

er schmeißt sie alle in ein‘ Topf,

lässt Bomben regnen auf die Syrer,

grad eben noch ihr Volksverführer.

 

Und Waffen sammelt auch die Brut

im Nachbarland, die Schlimmes tut.

Als Isis sie den Terror schürt,

dass bald man den Verstand verliert.

 

So kommt es wie es kommen muss,

sie bringt nach grausamem Beschluss

den Krieg zu Ali und den Seinen,

wo alle etwas andres meinen.

 

Gemordet wird an allen Orten,

man ringt um Einsicht und nach Worten,

doch längst scheint alles wirkungslos,

wo bleibt denn Rettung für sie bloß?

 

Das Haus zerstört und auch die Singer,

schaut Ali auf die eignen Finger,

beschließt, dass er muss fort von hier

und sucht ein ruhigeres Quartier.

 

So lässt er traurig seine Stadt

zurück im Rauch, der Kopf ist matt.

Im Türkenland schon tausend sind

mit wenig Hab, mit Angst und Kind.

 

Und alle hoffen auf ein Ende,

dass endlich kommt einher die Wende.

Doch schlimmer wird es noch im Lager,

die Hilfe wird auch dort nun mager.

 

Da hört er, dass in fernen Ländern

man diese Situation kann ändern;

doch teuer sei’s und’s droht Gefahr,

riskieren muss man Haut und Haar.

 

Verkauft flugs seine letzte Habe,

denkt nicht an Tod und’s eigne Grabe,

durchwandert erstmal die Türkei,

hört links und rechts allweil Geschrei.

 

Am Meer dann warten sie in Mengen,

tun sich in kleine Boote drängen.

So manches Schiffchen wird versinken

und mancher stirbt, da nichts zu trinken.

 

Voll Angst er sich im Boot entfernt,

denn Schwimmen hat er nie gelernt.

Wo wird er denn nun landen bloß?

Man sagt, es sei die Insel Kos.

 

Voll Freude steigt er dort an Land

Und eilt sogleich zum schönen Strand.

Er findet tot den Freund dort liegen,

das Meer tat schaurig ihn besiegen.

 

Ein groß Gedränge, Hunger, Hitze

sind neue Qualen, Gott beschütze!

Er wendet sich nach Mekka nun:

Und ruft zu Gott: „was soll ich tun?“

 

Das Schweigen kann er kaum ertragen,

Zudem brüllt lauter jetzt der Magen.

Voll Angst kommt über ihn der Schlaf,

er träumt vom Wolf der frisst das Schaf.

 

Nach Wochen endlich bringt ein Schiff

vorbei an manchem scharfen Riff

zum Hafen ihn, nah bei Athen.

Mit Tausenden heißt’s: Weitergeh’n.

 

Manch Tag, manch Nacht nun muss er warten

vor Ländern, die er nie auf Karten

in seiner Schul‘ entdecken konnte,

als er sich noch zuhause sonnte.

 

Das kleine Mazedonien,

dann folgt das arme Serbien,

und immer steh’n Soldaten da

und langsam wird es kälter gar.

 

An einem Tag dann  auf den Gleisen

Steh‘n starr die Jungen und die Greisen,

und sehen, wie das Ungarland

ein Bollwerk baut, welch große Schand‘!

 

Kroatien treibt sie wie das Vieh

durch Bäche, Schlamm, s’ist kalt wie nie,

zudem droh’n auch noch Tellerminen

versteckt in Feldern und im Grünen.

 

Slowenien folgt, gibt’s gar kein End?

Nur weiter, alles trabt und drängt.

In Österreich ein Freund nun bleibt,

und froh an seine Heimat schreibt.

 

Doch Ali will noch weiter zieh’n,

bis Deutschland lohn‘ sich alle Müh’n.

Die Singer, „Made in Germany“,

da muss er hin, jetzt oder nie!

 

Noch zwei Tag‘ warten, s’ist geschafft,

sein kleines Hab zusamm‘ gerafft,

noch diese eine Grenze schnell,

die Nacht ist lang, s’wird langsam hell.

 

Todmüde denkt er nur an Schlafen

und fühlt sich nun im sich’ren Hafen.

Im Traum verfolgt er all die Mühen

und wie dem Tod er tat entfliehen.

 

Kaum ist er da in diesem Land,

muss  er gleich hören, welche Schand‘,

dass mancher greift zur Lunte gar

bei Flüchtlingsheimen, ist das wahr?

 

Es bleibt die Hoffnung für den Mann,

dass bald nach Haus‘ er wieder kann!


 

Bin Zeitabonnent und also auch Chrismon- Leser und habe all die Artikel zum Thema Flüchtlinge sehr interessiert gelesen. Wenige Meter von unserem Haus ist ein Containerdorf entstanden, wo wir seitdem helfen, wo wir können. Das Thema hat mich so sehr beschäftigt, dass ich diese Ballade geschrieben habe.

Mit freundlichen Grüßen,

Ulrich Siegers, Berlin

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Als ehemaliger Bewohner der Angestellen-Häuser in Oderberg kenne ich die Oderberg-Klinik von Jugend an. Von 1939 - 1950 habe ich dort gewohnt und bin in den Nachkriegs-Zeiten dort groß geworden. Gern erinnere ich mich an meine Kindheit dort. Vom Krieg und den Nachwehen haben wir nicht viel mitbekommen. Eingebettet in Natur und Wälder haben wir recht fröhlich als Kind dort leben können. OK. auch ich habe Vater im Krieg verloren, wenig zum Essen gehabt - aber wir hatten keine Kriegslandschaft. Haben uns von Beeren und Pilzen aus dem Wald ernährt, Sauerampfer von den Wiesen gekaut...
Wenn ich an die Kinder aus Aleppo denke, was muss das denen gut tun hier nur Natur zu hören.
Den Andreasbergern, die dort "erste Hilfe" leisten kann ich nur sagen: Ihr seid ganz toll. Kleiderkammer, Nähzimmer, Spielzimmer, Spielen am Minigolfplatz, Schneeballschlacht. Was ihr dort auf die Beine stellt ist einfach super.
Diese Kinder und natürlich auch ihre Eltern und Mitbewohner, die dort aufwachsen, können sich nur positiv erinnern und werden immer über ihre ersten Tagen im Harz berichten - positiv. Und das ist ganz wichtig und prägend für ihr Leben und für einen Einstieg in Deutschland oder als Erinnerung wenn sie mal zurückkommen in ihre alte Heimat.
Ich freue mich, dass diese Flüchtlinge eine relativ gute Basis gefunden haben für ihren traurigen Start nach der Ausbombung (z.B. in Aleppo) in Oderberg - meiner ehemaligen Heimat....und so viele tolle Erlebnisse mitnehmen können, dank der positiv denkenden "Andreasberger".
Bin stolz auf meine Heimatstadt

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Hallo
ich bin in diesen beschaulichen Ort( Damals noch Stadt) geboren und aufgewachsen. Meine Eltern und Großeltern kamen nach dem Krieg aus Danzig dort hin. Damals machte der Ort schon einmal einen Sprung in der Bevölkerung nach vorne. Leider baute sich dieser Zustand dann ab Mitte der
1970er Jahre wieder bedrohlich ab. Ich bin seiner Zeit nach Karlsruhe gegangen weil hier Arbeit und bessere Infrastruktur zu finden waren. Und so wird es mit den Flüchtlingen genau so werden sie gehen dort hin wo Arbeit und Zukunft ist. Meine Wurzeln konnte ich leider in dieser eigentlich schönen Stadt nicht vertiefen. Viele meiner ehemaligen Mitschüler und Fußballkamaraden sind meinen Beispiel gefolgt und können von der schönen Umgebung nicht leben. Es ist gut , das die Rehberg Klinik noch eine Aufgabe bekommt. Den viel mehr Menschen, wird dieser Ort wahrscheinlich nicht mehr in seiner Untergangsphase sehen.