Foto: epd-bild / Jens Schulze
Am 17. April 2015 fand im Hohen Dom zu Köln ein Ökumenischer Gottesdienst zum gemeinsamen Gedenken an die Opfer des Flugzeugabsturzes in den französischen Alpen statt. Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und chrismon-Herausgeberin, predigte in ihrer Ansprache über Psalm 56,9. Wir dokumentieren die Predigt im Wortlaut nach dem Redemanuskript.
Präses der ev. Kirche Westfalen, Annette KurschusBarbara Frommann
17.04.2015

I.
Unbegreifliches ist geschehen, liebe Angehörige der Passagiere und der Crew des verunglückten Flugzeuges, verehrte Staats- und Ehrengäste, liebe Trauergemeinde im Hohen Dom zu Köln und im Land.

Unbegreifliches ist geschehen. Eltern und Kinder, Männer und Frauen, Freunde und Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen wurden aus dem Leben gerissen. Menschen wurden abgeschnitten von ihren Lieben und von allem, was noch bis vor dreieinhalb Wochen so selbstverständlich schien.

Unbegreifliches wurde getan. Abgründe klaffen auf, in Seele und Menschenherz. Nie für möglich gehalten, kaum je geahnt und doch wirklich gemacht - auch für, nein gegen so viele, die leben und lieben konnten und wollten und sollten.
Unbegreiflich!

Das Unbegreifliche muss ausgehalten werden. Familien, Häuser und Nachbarschaften; Schulen, Städte und Dörfer, ein ganzes Land, ja mehr als nur ein Land rücken zusammen im Aushalten-Müssen und im Begreifen-Wollen.

Menschen reichen einander die Hände. Tun das Wenige, das getan werden kann - und das Viele, das getan werden muss. Geben Nähe und halten Abstand. Leihen Ohren und versuchen Worte. Schenken Zeit und gehen mit. Teilen Kräfte und Ohnmacht. Sie bleiben da, halten mit aus, schweigen, beten und weinen.
Unbegreiflich auch das.

Und doch - Gott sei Dank! - wirklich.


II.
Mitten da hinein hören wir – wiederum unbegreiflich, ja beinahe unsagbar: Einmal und einst komme eine Zeit, in der all dies aufhören wird; in der es zur Ruhe und zum Frieden kommt. Alles rastlose Tun und ohnmächtige Aushalten, alles Fragen und Weinen. Weil Gott selbst alles neu macht. Weil Gott selbst abwischen wird alle Tränen.

Und bis dahin?

Was wird bis dahin aus den Tränen?

Aus den vielen Tränen, die schon geweint wurden in Tagen und Nächten, allein und gemeinsam, zu Hause und in der Fremde. Geweint von jenem ersten unwirklichen Moment an, als die Nachricht kam – bis heute.

Was wird aus all den Tränen, die noch geweint werden müssen – bis einmal und endlich, vielleicht...?

Gott, sammle meine Tränen in deinen Krug. So betet ein Mensch in der Bibel Israels. Ein Mensch in großer Not.
Er kann nicht warten, bis irgendwann irgendwie irgendeiner vielleicht...

Jetzt will er wissen und spüren, dass Gott da ist. Für ihn und für alle und alles, was er verloren hat. Jetzt.

Womöglich hat dieser Mensch in all dem Unbegreiflichen eines längst begriffen; er spürt es in seiner Wut und Todtraurigkeit: Kein Mensch, kein Luftfahrtexperte und Psychologe – auch keine Bischöfin und kein Kardinal – kann eine Brücke schlagen über den Abgrund, der aufgerissen ist zwischen mir und dem Leben, zwischen mir und der Welt und in mir selbst.

Gott selbst muss da sein für mich und für die, die ich verloren habe. Gott selbst muss einstehen für das, was geschehen ist und was er hat geschehen lassen. Gott selbst muss das Unbegreifliche zu seiner Sache machen.

Bis hin zur kleinsten Träne, die ich geweint habe, die ich noch weinen muss oder schon gar nicht mehr weinen kann.
Gott, sammle meine Tränen in deinen Krug, bittet dieser Mensch. Mehr nicht. Aber weniger kann er nicht verlangen.
Wir rufen heute mit seinen Worten. Rufen miteinander und füreinander:

Ach Gott, in Jesu Namen sammle doch unsere Tränen in deinen Krug. Mach Menschentränen zu Gottestränen. Wenn wir schon fragen und klagen müssen, wo du warst, als aus hellem Morgen finstere Nacht wurde, als es tiefdunkel wurde – erst in einem Herzen und dann in den Herzen so vieler anderer – so müssen wir, Gott, doch dies jetzt erbitten und verlangen: Sammle unsere Tränen in deinen Krug. Mach unser Weinen zu deinem.


III.
So viel wurde geweint in diesen Tagen. Von so Vielen. Und dann sind da Tränen, die können von so vielen Männern und Frauen, Eltern, Kindern, Jugendlichen nun nie mehr geweint werden: Freudentränen; Tränen des Glücks und der Rührung; Tränen des Verstehens, Tränen des Wiedersehens.

Muss, wer lebt, auch diese Tränen noch mitweinen? Stellvertretend für alle, die das nicht mehr können? Oder dürfen wir hoffen, dass Gott es tut?

Erbitten dürfen wir es. Ja, wir müssen es erbitten: Ach Gott, im Namen Jesu, der lachte und litt und weinte und starb, sammle doch nicht nur meine Tränen in deinen Krug. Die, die ich vergoss und noch vergießen werde.

Ach Gott, sammle und bewahre das ungelebte Leben, das ungeweinte und das ungelachte Leben derer, die wir verloren haben. Hüte auch ihre Tränen, Gott, und verwandle sie. Wen, wenn nicht dich, könnten wir darum bitten?


IV.
Nie sind wir mehr Mensch als dann, wenn wir weinen. Nie ist unsere Menschlichkeit stärker gefragt als da, wo andere weinen.
Nie ist die menschliche Würde sichtbarer und verletzlicher. Wie gut ist es, wenn wir weinen können. Miteinander und füreinander.
Und wie würdelos ist es, ein Geschäft mit den Tränen von Menschen zu treiben.

Die Tränen der Trauernden gehören niemandem als ihnen selbst. Und wenn er der letzte und der einzige wäre, der dafür einsteht: Gott tut es. Er sammelt und birgt die Tränen. Er ehrt und schützt die Menschen, die sie weinen.

Und wenn es nur eins wäre, was Gott von uns Menschen und unserer Gesellschaft erbittet: Dies erbittet und dies verlangt er.
Um Gottes und um der Menschen willen: Achtet die Tränen. Ehrt und schützt diejenigen, die sie weinen.


V.
Tränen fließen – und Tränen versiegen. Zurückhalten kann man sie kaum. Herbeizwingen kann man sie gar nicht. Und festhalten auch nicht. Tränen fließen – und Tränen gehen aus. Sie trocknen – und sie werden weggewischt.

Zu voreilig manchmal. Und oft, gottlob, auch zärtlich. Vergänglich sind sie, die Tränen. Und deshalb unendlich kostbar – wie das Leben selbst. Auch bei Gott. Gerade bei Gott. Ob dann, wenn in Gottes Krug eine jede Träne gesammelt und gezählt und bewahrt ist – ob dann auch Menschen aufhören können und aufhören dürfen, über dem Unbegreiflichen zu weinen?

An dieser Hoffnung will ich festhalten. Darum will ich und muss ich Gott bitten. Auch für alle, die es jetzt nicht können: Sammle du, Gott, unsere Tränen in deinen Krug. Halte fest, was wir nicht festhalten können - so wie du Jesus, dein Kind, unsern Menschenbruder, gehalten hast. Noch durch Sterben und Tod hindurch.

Bewahre wie einen Schatz, was wir hergeben müssen. Sammle du, Gott, die Tränen und all jene, um die sie geweint wurden. Bewahre sie, wenn ich mich müde getrauert habe und nicht mehr weinen kann. Und sollte ich eines Tages vielleicht sogar wieder lachen können, so halte die Tränen und die Beweinten weiter in Acht.

Dann, Gott, werde ich gewiss sein, dass du wirklich alles neu machst und alles veränderst: Mich, jede Träne und jeden Menschen.

In Jesu Namen.

Amen.

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Diese Rede gefällt mir sehr in vielen, vielen Punkten. Leider zeigen Medien gerne die Tränen wie bei der Berichterstattung mit der Opferangehörigen Sarah. Sie verlangen hier den ganzen Namen. Wenn man eine tiefe Spiritualität hat, dann ist man auch froh, es auf mehreren Schultern verteilen zu können: mariapaulaluciah.de Ich freue mich über Leser und Leserinnen.