Karin K., 59, schreibt an ihr Fenster
Ina Schoenenburg
Ab jetzt alles mit links
Unter Tränen schrieb sie ihre ersten Worte mit der anderen Hand. Ihr war so leicht ums Herz
26.02.2015

Karin K., 59:

Mir war als Kind nicht bewusst, dass ich Linkshänderin bin. Nur an eine Situation kann ich mich erinnern: Wir saßen alle am Tisch, es gab Eintopf, und mir war die linke Hand fest verbunden worden mit einem Tuch, damit ich den Löffel nur in die rechte Hand nehmen konnte.

Als ich dann in die Schule kam, schrieb ich gleich mit rechts, weil man das so machte. Ich habe mich nichts getraut als Kind, bloß nicht auffallen, mich immer anpassen, das war typisch für mich. Einmal sollte ich ein Gedicht von Goethe vor der Klasse aufsagen. Ich wusste, ich konnte das. Aber als ich vor den anderen stand, war alles weg. Überhaupt konnte ich nie lange reden, und wenn, dann habe ich stockend und in halben Sätzen gesprochen, weil ich den Faden beim Erzählen schnell verloren habe.

Buchtipp

Marina Neumann: „Natürlich mit links. Zurück zur Linkshändigkeit – befreiter leben mit der starken Hand“

Ariston Verlag 2014, 224 Seiten, 16,99 Euro

Die Autorin Marina Neumann, Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin, ist selbst Linkshänderin. In der 1. Klasse wurde sie zum schreiben mit rechts gezwungen, mit 47 Jahren hat sie sich selbst auf links zurückgeschult. Das hat sie auch seelisch befreit. Mit Fallbeispielen und vielen Informationen möchte sie unterdrückten Linkshändern Mut machen, die Linkshändigkeit wieder zu leben.

 

Allerdings machte ich manches ganz automatisch mit links, ohne dass sich jemand daran störte: beim Federball den Schläger in die Linke genommen, Schnürsenkel mit links gebunden, als Werkzeugmacherin mit links gefeilt – und meine beiden Kinder ließ ich mir nach der Geburt von der Hebamme in den rechten Arm legen. Auch in meinem neuen Beruf als Altenpflegerin mache ich alles mit links: Spritzen geben, Stullen schmieren...

Nur geschrieben habe ich immer mit rechts. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass das so einen Einfluss hat auf meine seelische Verfassung! Dass ich deshalb immer so unsicher war und für alles doppelt so lang brauchte wie andere. Doch dann sah ich diese Fernsehsendung, in der eine Psychologin berichtete, dass Linkshänder, die mit rechts schreiben, ihr Leben lang darunter leiden können. Dass sie oft schüchtern sind und sich in ihrem ganzen Wesen als falsch empfinden. Ich fühlte mich erkannt. Und sie sagte, es sei nie zu spät, mit links schreiben zu lernen. Gleich am nächsten Tag rief ich sie an und machte einen Termin bei ihr aus. Zum Glück war ihre Praxis nur anderthalb Stunden entfernt von dem kleinen Dorf, wo ich wohne.

In der ersten Sitzung gab sie mir einen Stift in die linke Hand und sagte, ich solle etwas malen. Erst einen Baum. Ich: Oje, das kann ich doch gar nicht. Dann einen Schneemann. Und plötzlich hatte ich so ein warmes Gefühl im Bauch. Ich wollte den Stift nicht mehr aus der Hand geben, so leicht fühlte sich das an.

Von da an habe ich wie eine Besessene geübt. Die ersten ­Wochen machte ich Schwungübungen: Kringel, Achten, Schlaufen, die malt man erst mit dem Bleistift nach und zeichnet sie dann frei. Da sind mir schon die Tränen gelaufen, weil mir so leicht ums Herz war. Es war, als würde sich alles Angestaute und Unter­drückte in mir Bahn brechen. Auf der Arbeit fing ich an, mein Kürzel mit links zu schreiben: Kö. Ganz krakelig. Manche Kollegen spotteten: Wieso machst du das, du hattest doch so eine schöne Schrift! Das hat mich getroffen, aber ich bin dabei geblieben.

Dann hatte ich zum Glück zehn Tage frei, jetzt konnte ich das Alphabet üben. Morgens habe ich mich an den Tisch gesetzt und geschrieben und geschrieben. Später schrieb ich ganze Bücher ab. Das war wie ein Rausch. Ich vergaß zu essen. Ich wollte nicht mehr vom Tisch aufstehen, weil ich Angst hatte, das Glücksgefühl zu verlieren. Bis mein linkes Handgelenk entzündet war, da musste ich mich bremsen. Es gab dann auch eine Phase, wo mir alles zu langsam ging, meine Schrift sah immer noch eckig aus. Da schrieb ich sogar kurz noch mal mit rechts, aber das fühlte sich nicht gut an, und ich bin gleich wieder zurück zur linken Hand.

Heute schreibe ich alles mit links: Briefe, Formulare, Einkaufslisten, Tagebuch. Meine Schrift war früher vielleicht schöner, aber ich fühle mich jetzt viel lebendiger. Meine jüngere Schwester sagt, ich würde jetzt fließend reden, ich würde mich nicht mehr verheddern. Auf der Arbeit meckere ich nicht nur rum, wenn mir was nicht passt, sondern ich suche nach Lösungen. Ich kann viel klarer formulieren, was ich will, nenne Fakten und äußere nicht nur Gefühle.

Am schönsten ist es immer noch, wenn ich wo unterschreiben kann. Im Supermarkt, hinter mir eine Schlange an der Kasse, ich zahle mit EC-Karte, und die Kassiererin hält mir den Bon hin. Ich könnte innerlich laut loslachen, wenn ich dann meinen Namen schreibe: Karin K. So ein Jubel ist dann in mir.

Protokoll: Ariane Heimbach

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Auch ich bin den Weg der Rückschulung gegangen oder gehe ihn noch immer, seit nunmehr mehr als 5 Jahren, --und kann es nur jedem empfehlen, der die Linkshändigkeit bei sich entdeckt. Der gesamte Lebensweg wurde maßgeblich durch sie beeinflußt und vieles was man nicht an sich selbst verstehen konnte wird plötzlich klar.
Unklar ist, warum dieses Thema von den Wissenschaften bisher nahezu völlig ignoriert wird. Eine Rolle spielt hierbei sicherlich, dass eben auch unter den Wissenschaftlern viele unerkannte umgeschulte Linkshänder sind, die die Konsequenzen einer Umschulung leugnen, weil sie unbewußt spüren wie sehr diese Bestandteil ihrer eigenen Persönlichkeit ist. Es gehört sehr viel Mut dazu die eigene Persönlichkeit, das eigene "Ich" in Frage zu stellen und in einem jahrelang währenden Prozess zu hinterfragen. Nichts anderes ist die Rückschulung.
Immer wieder weise ich auf die psychologischen und neurologischen Folgen hin. Hier gibt es ein nahezu unendliches Forschungsgebiet.

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Die Umschulung ist eine Körperverletzung. Ich kämpfe auch sehr damit, weil ich nicht nur mit rechts schreiben, sondern auch alles andere mit rechts machen mußte. Meine Eltern haben nichts gegen die Umerziehung im streng katholischen Kindergarten unternommen. Es gibt zu den Problemen mit der Händigkeit tolle Bücher von Barbara Sattler. Sie hat in München auch eine Beratungsstelle für Linkshänder und Umerzogene gegründet. Im WWW gibt es dazu auch interessante Seiten. Jeder Betroffene sollte sich unbedingt informieren, weil die Auswirkungen katastrophal sind, insbesondere auch auf die Psyche. Man ist eigentlich behindert. Leider wird heute aus religiösen Gründen wieder verstärkt umerzogen, was aber ein gesellschaftliches Tabu ist.

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Ich bin selbst umgelernte Linkshänderin. Ich mache alles mit links, außer schreiben - wie Karin K. Der Artikel hat etwas in mir bewegt. Vielleicht sollte ich es mal probieren mit dem Linksschreiben. Jedenfalls schloss der Artikel an eine andere Erfahrung an, die ich kürzlich machen durfte: Eine Studentin von mir verfasste zusammen mit Schülern ein Bilder-Text-Buch über die Geschichte der Linkshändigkeit ("Die Geschichte von der linken Hand"). Dafür hatten sie Linkshänder als Interviewpartner gesucht und ich war einer davon gewesen. Ich war überrascht, wie viele Kindheitserlebnisse (leider meist Schwierigkeiten) mir einfielen, die mit meiner Linkshändigkeit zu tun hatten. Obwohl ich immer gedacht hatte, dass das für mich kein wichtiges Thema sei. Und erst recht keine Belastung. Trotzdem habe ich mich gefreut über die Bestätigung, denn am Ende des Buches gab es ein Kapitel, in dem die Schüler formulierten, was sie in diesem Projekt gelernt haben. Und einer schrieb: "Warum soll man zwischen Links- und Rechtshändern einen Unterschied machen? Wir sind doch alle gleich und doch irgendwie jeder anders!" Genau - jeder einzigartig.