privat
Und alle haben ein Foto dabei
Vor 100 Jahren hat sein Vater am Hartmannsweilerkopf gegen die Franzosen gekämpft. Nun traf Ursula Ott ihren ehemaligen Lehrer, gemeinsam waren sie bei der Gedenkfeier im Elsass dabei.
Tim Wegner
29.07.2014

Natürlich hat Wilfried wieder dieses Foto mitgebracht. Von Valentin Krauss, seinem Vater, der als 17jähriger hier am Hartmannsweilerkopf gekämpft hat, vor genau 100 Jahren. Wilfried Krauss ist mein ehemaliger Geschichtslehrer, ich habe im neuen chrismon über ihn geschrieben, und Wilfried, seine Frau Barbara und ich  sind zusammen heute ins Elsass gefahren, um die deutsch-französische Freundschaft zu feiern.  Mit dem Foto vom jungen Soldaten in der Tasche, das war mir klar.

Aber was mich wirklich überrascht: Mein Lehrer ist nicht der einzige. Fast alle haben in Aktentaschen oder Jutebeuteln Fotos dabei. Oder Zeichnungen. Oder ganze historische Bildbände. Warum schleppt man – neben Wasserflasche, Personalausweis und Regenschirm – persönliche Bilder zu einem Staatsempfang auf knapp 1000 Metern Höhe? Mir scheint, Willi ist nicht der einzige, der hier noch was erledigen will, hier oben am „Menschenfresserberg“. Noch etwas zu Ende bringen, einem nahen Verwandten die Ehre erweisen.

Zum Beispiel Gerlinde Kretschmann, die Frau des baden-württembergischen Ministerpräsidenten. Sie hat in einer Einkaufstasche gleich ein ganzes Bündel von Aquarellen mit gebracht, die der Bruder ihrer Großmutter im Ersten Weltkrieg gemalt hat, in Gefechtspausen. Entlaubte Bäume am Hartmannsweiler-Gipfel,  entlaubt vom Giftgas. Kanonen. Sterbende Kameraden. Und immer wieder die üppige, herrliche Landschaft der Vogesen im Hintergrund. „Wir sind ja mit dem Hartmannsweilerkopf aufgewachsen“, sagt die First Lady aus dem schwäbischen Dorf Laiz, „fast jeder kennt einen, der einen kennt, der hier gekämpft hat“. Ihr Großonkel, der die Aquarelle gemalt hat, ist hier gestorben, im Alter von 21.

Oder jener alte Herr, der mit uns auf den Bus wartet, er hat ein ganz ähnliches Foto in der Jackentasche wie mein Lehrer Willi: Papa posiert in Uniform im Fotostudio. „Mein Vater hat schon am 9. August einen Kopfschuss erlitten, kaum eine Woche nach Kriegsbeginn“, erzählt der alte Herr. „Und wir Kinder wollten immer alles wissen über diese breite Narbe quer übers Gesicht“ ergänzt seine Enkelin.  Der Opa ist 90 Jahre alt geworden. Sohn und Enkelin wollen heute an ihn erinnern.

Treffen im Elsass, chrismon Chefredakteurin Ursula Ott mit Ihrem ehemaligen Geschichtslehrer

Es fällt wirklich auf: Alle, alle, die sich heute hier versammeln, sagen „ich“. Ich und mein Vater. Ich und meine Kinder.  Hollande erzählt von seinem Großvater. Gauck erzählt von seinen Söhnen. Und auch wir Gäste werden alle sehr persönlich. „Meine Söhne wären ja jetzt schon tot“, sagt Gerlinde Kretschmann. Ihre Kinder sind Mitte 20. Und die meisten Soldaten hier am Hartmannsweilerkopf starben mit 18 oder 19. Über 30.000 Tote, unfassbar.

Ähnliche Gedanken kommen mir auch. Ich habe zwei Söhne, 14 und 17. Unvorstellbar, ich müsste sie in einen Krieg ziehen lassen. Ich habe schon geheult, als der Große in den TGV stieg, zum Schüleraustausch für sechs Monate in Dijon. Mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk. Das hat auch heute ein Mädel und einen Jungen geschickt, die eine „Zukunftsbotschaft“ verlesen. Erfrischend, nach den vielen Veteranen mit ihren Orden an der Uniform. „Ihr sollt  Fremdsprachen lernen! Ihr sollt Fremdenfeindlichkeit bekämpfen! Ihr sollt euch vernetzen! Überwindet eure eigenen Grenzen!“ ruft ein rothaariges Mädchen aus Hamburg der Menge zu, und der Bundespräsident nickt zufrieden.

Denn das hat er ja wieder mal gut gesagt, der Cher Joaschim. Sie nennen den Hartmannsweilerkopf den „Menschenfresserberg“. Aber: „Es war nicht der Berg, der tötete“,  sagt Gauck zurecht, „es waren die Menschen selber“. Es waren Menschen, die auf Menschen geschossen haben – Menschen mit denselben Träumen und Todesängsten, wie Francois Hollande ergänzt. Und es können nur einzelne Menschen sein, die jetzt Freundschaft schließen.

Deutsche und französische Soldaten fielen in den Schützengräben dieser Bergkuppe in den Vogesen
Und das machen sie heute, an diesem Gedenktag zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Es fällt wirklich auf. Sonntag früh um acht, auf dem Weg zum Gipfel, war es ganz still im Bus. Heute Mittag, nach feierlichem Totengedenken, Trommelwirbel, Marseillaise und Deutschlandhymne, sind wir alle aufgekratzt wie im Schullandheim. Jeder spricht jeden an. Was führt Sie hierher, Wo kommen Sie her. Wilfried, mein kontaktfreudiger Lehrer, fragt sogar einen Gendarmen aus und will seine ganze Lebensgeschichte wissen. Aus Haguenau? Vater im Krieg? Wann? Wo? Der Gendarm – und Gendarmen sehen im richtigen Frankreich ja immer noch aus wie im Lois-de-Funes-Film, mit zylinderartigem Helm und Gauloises in der Hand  – verpasst vor lauter deutsch-französischer Freundschaft fast seinen Einsatz. Er soll Monsieur Hollande gleich zum Kasseleressen eskortieren ins Bergrestaurant, aber jetzt hat er sich mit uns deutschen Bürgern fest gequatscht. Ermahnung vom Chef, Monsieur, wo bleiben Sie denn. Der Gendarm beibt gelassen, „mir kann nichts passieren, ich bin bald in Ruhestand“.  Gerade will mein ebenfalls pensionierter Lehrer, eine Debatte darüber anzetteln, warum französische Beamte schon  mit 59 ihre Pension bekommen – da siegt das spontane Gefühl: Nicht heute! Keine Klischees von wegen – die Franzosen gehen alle so früh in Ruhestand! Heute nur Gemeinsamkeiten!

Beschwingt fahren wir am Sonntag nachmittag zurück, Wilfried, seine Frau Barbara und ich. Gehen noch gut essen, der Frieden will gefeiert werden, der Elsässer Gugelhupf ist formidabel. „Wissen Sie, dass mein Vater mit uns Kindern 1956 hierher fuhr, und kein Gastwirt wollte uns beherbergen?“, fragt Wilfried die Gastwirtin. Die nickt höflich, ja, sie kenne heute noch viele im Elsass, die die Deutschen nicht mögen. Ist doch klar, wir haben dieses Land in 100 Jahren zweimal angegriffen. Aber dann sagt auch die Wirtin diesen schönen Satz, den Herr Gauck und Herr Hollande heute betont haben: „Unsere Hoffnung liegt auf der nächsten Generation!“

Wilfried Krauss mit seiner Frau Barbara
Und ich nehme mir vor: Auch wenn es mich wieder viele Tränen kosten wird – der kleine Sohn soll auch hinaus zum Schüleraustausch. Zu jener „jeune force d´amitié“ gehören, die Präsident Hollande heute feierlich begrüßt hat. Junge Freundschaftstruppe – ehrlich, mir geht alles Militärische ab. Aber das war schon prima: 100 Jugendliche in der ersten Reihe, in denselben blauen T-Shirts, gleichauf mit den alten, Orden behangenen Veteranen, mit den Brigaden und mit der Marine. Force d´amitiés. Wenn ich jemals zu einer Truppe gehören möchte mit meinen Jungs, dann gerne zu dieser.  Zu einer Freundschaftstruppe.

Sonntag abend, wir passieren die Grenze bei Neuf-Brisach. Der Rhein ist hier ein breiter reißender Strom, er markiert eine Grenze, die man sonst gar nicht mehr spürt. Kein Schlagbaum, kein Grenzbeamter, bestenfalls das deutsche Telekom-Netz auf dem Handy signalisiert, dass wir eine Landesgrenze überschritten haben. Das hätte sich vor 100 Jahren wirklich keiner vorstellen können.

Wilfried, mein Lehrer, ist jetzt ganz still geworden. Müde vom großen Ausflug auf den Menschenfresserberg, erschlagen von den großen Gefühlen. „Mein Vater wäre sehr zufrieden, wenn er uns von da oben zugucken könnte“, sagt der Sohn. Ja das war eine würdige Feier, mit vielen jungen Leuten, die Mut machen.  Und vielen jungen Leuten hat auch er als Lehrer vermittelt: Nie wieder Krieg! Das Foto, lieber Willi, das kannst Du jetzt wieder ins Album kleben.
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Ein lebendiger Bericht über das "Jahrhunderttreffen" am Hartmannswilerkopf, 100 Jahre nach Ausbruch des WK I, der gekonnt Sachliches mit Persönlichem und Biographischem verknüpft: Die Autorin besucht den vom sinnlosen Tod so vieler getränkten Ort im Elsaß zusammen mit ihrem alten Geschichtslehrer "Willi", dem nichts so sehr am Herzen lag wie seinen SchülerInnen das klare "Nie wieder Krieg!" auch emotional einzubrennen.
Es tut gut, von den positiven, verbindenden Seiten des Treffens zu hören, von einer anderen Generation und ihrer Jugend. Und es tut mir weh, zu gleicher Zeit mit Blick nach Palästina/Israel, Ukraine/Russland und Irak/Syrien denken zu müssen: Muss es immer so schrecklich zugehen und muss es denn wirklich so lange dauern, bis sich zwei Präsidenten von ehemals erzverfeindeten Ländern umarmen und die Menschen einander begegnen statt sich zu erschießen?