„Die Erde hat sich aufgetan... es blitzt und knallt, es donnert, und der Himmel reißt entzwei und fällt entflammt herab – die Erde fliegt in Stücken auf. Die Menschen und die Erde explodieren und fahren rund wie Feuerräder durch die Luft. Und dann... ein Krach, ein wütendes Getöse schlägt uns an die Brust, dass wir rücklings zu Boden fliegen und besinnungslos im Sand nach Atem ringen.“ So beschreibt der Hamburger Lehrer Wilhelm Lamszus die Schrecken des Ersten Weltkriegs. Das Überraschende daran: Er verfasste sein Buch „Das Menschenschlachthaus“ im Jahr 1912 – zwei Jahre vor Ausbruch des Krieges.
Kurz zuvor hatte Lamszus eine Reserveübung zu absolvieren. Dabei beobachtet er, wie seine Kameraden die modernste Kriegstechnik erproben: Repetiergewehr, Schnellfeuergeschütz, Maschinengewehr, den Einsatz der Luftwaffe. Es gelingt ihm sich vorzustellen, welche Folgen diese Waffen in einem Krieg für die Soldaten haben würden: „Man ließ ein Maschinengewehr schnurren, und schon spritzte es Kugeln dichter, als der Regen fällt! Als hätte der Tod die Sense aufs alte Eisen geworfen und wäre Maschinist geworden!“ Vor so einem Krieg wollte der junge Volksschullehrer mit seinem recht drastischen Jugendbuch warnen – nicht für ihn werben, wie es viele der richtigen Schriftsteller seinerzeit taten, darunter Thomas Mann, Ernst Jünger, Gerhart Hauptmann.
Wie schon sein Vater, ein Schuster, ist Lamszus Sozialdemokrat. Aber er will als Pädagoge die Welt verändern. Er engagiert sich für die Reformpädagogik. Gerade die Jugend wird im Wilhelminischen Kaiserreich von Soldatenbildern aus dem 19. Jahrhundert indoktriniert. Darin erscheint ein „Waffengang“ als heroischer Wettkampf.
Der Senator bedauert die Beurlaubung des Lehrers sehr
Aber Lamszus will seine Schüler zu kritischen Bürgern erziehen. Sein Antikriegsbuch hat überwältigenden Erfolg. In wenigen Monaten sind mehr als 100 000 Exemplare verkauft. 1913 erscheint eine Übersetzung auf Englisch, später auch auf Französisch und in vier weiteren Sprachen. Sozialdemokratische Medien und die aufkommende Friedensbewegung loben das Buch überschwänglich. Literaturkritikern gilt das Buch als gelungen, allerdings auch als „Tendenzliteratur“. Die bürgerliche Presse jedoch tobt: Der Autor sei ein nervenschwacher Feigling und vaterlandsloser Geselle. Die politische Polizei lässt Lamszus observieren und schickt zur Beerdigung seines Vaters Spitzel.
Der kaiserliche Kronprinz persönlich fordert den Hamburger Senat auf, ihn aus dem Schuldienst zu entlassen. Der Schulsenator lädt den Buchautoren vor. John von Berenberg-Gossler, der den Lehrer zunächst vom Dienst beurlaubt hat, teilt ihm mit, dass er inzwischen das Buch gelesen habe und nichts Gesetzwidriges darin finden könne. Zwar teile er keineswegs die dort vertretenen Ansichten, aber es sei nicht verboten, seine Meinung über den Krieg offen aussprechen. Die Beurlaubung wird zurückgenommen. Der Senator schreibt sogar an Lamszus’ Mutter und äußert sein Bedauern, ihr Kummer und Aufregung bereitet zu haben.
In einer Schule möchte man den unbequemen Lehrer jedoch nicht dulden. Lamszus erhält den Auftrag, die Lage der Deutschen in der französischen Fremdenlegion in Nordafrika zu studieren. Er nimmt das Angebot an – und kommt mit einem weiteren Roman zurück. In ihm prangert er nicht nur die Brutalität der Fremdenlegion an, sondern rechnet zugleich mit dem militaristischen Imperialismus insgesamt ab. Als kurze Zeit später tatsächlich der Weltkrieg beginnt, wird sein Antikriegsbuch verboten, die schon fertig geschriebene Fortsetzung „Das Irrenhaus“ darf erst 1919 erscheinen.
Der Pädagoge selbst lehrt nun an einer Hamburger Reformschule und engagiert sich weiter gegen den Krieg, der schon bald in Deutschland wieder vorbereitet wird. 1933 erhält er Berufs- und Schreibverbot. Ein fertiges Buch über den Bombenkrieg – auch in ihm erahnt der Autor sehr präzise die Realität voraus – kann erst 1946 erscheinen. Drei Jahre vor seinem Tod 1965 schreibt er: „Heute bin ich gewiss, dass der dritte Weltkrieg nicht stattfinden wird. Millionen Menschen in allen Ländern haben begriffen, dass man der drohenden Gefahr mutig begegnen muss.“
Beeindruckend
wie Wilhelm Lamszus zu seinen Überzeugungen gestanden hat.
Aber auch wie der damalige Hamburger Schulsenator unter den herrschenden politischen Verhältnissen Rückgrat bewiesen hat.
Das ist es, was man sich auch heutzutage von einem hanseatischen Senator wünschen würde, und nicht das Schielen nach der "Obrigkeit" (von Parteibonzen und der eigenen politischen Partei oder den nächsten Wahlen).
Mit freundlichen Grüssen
Hans Ellinghausen
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