Weihnachten ist pralles Leben
"Weihnachten bei uns zuhaus" ist eine Sammlung von 21 Geschichten: Autorinnen und Autoren erzählen von IHREM Weihnachtsfest. Bis Heiligabend veröffentlichen wir eine kleine Auswahl daraus. Diesmal erzählen Anne und Nikolaus Schneider.
Foto: Tillmann Franzen
06.12.2013

Ein großer Tannenbaum muss es sein, mindestens zwei Meter hoch. Vor 38 Jahren, als die Schneiders ihr erstes Weihnachten allein als Paar feierten – die erste Tochter war unterwegs – hatten sie aus ökologischen Überlegungen heraus einen kleinen Baum mit Wurzel im Eimer. Das empfanden beide als so mickrig, dass sie sich versprachen: Ab jetzt gibt es immer große Bäume und ordentliche Kerzen! In ihrer neuen Wohnung in einem großzügigen Altbau in der Nähe des Volksparks Schöneberg ist genügend Platz, in der Höhe und in der Breite: Ein Weihnachtsbaum muss den Raum füllen und die Zeit. Es ist ihr erstes Weihnachten in Berlin, und auch hier gilt für das Paar: Weihnachten ist pralles Leben.

Zu ihren Gemeindezeiten und als die Kinder noch zu Hause lebten, luden sie alleinstehende Menschen zu sich ein, auch Schülerinnen, Freunde, Nachbarn. Schneiders haben immer ein offenes Haus geführt, selbstverständlich auch zu Weihnachten. Durch die Gottesdienste, die Nikolaus Schneider an Heiligabend hielt, war die Zeit zu Haus zwar knapp, aber die Stunde, mit den Kindern den Baum aufzustellen und zu schmücken, fand sich irgendwie immer. Dafür gingen die Kinder schon mal zu mehr als einem Gottesdienst mit und begleiteten ihren Vater mit Instrumenten. Anne Schneider sorgte und sorgt für ein gutes Büffet, zu dem sich jeder und jede etwas wünschen darf; der kulinarische Part ihres Gatten beschränkte sich in diesen Zeiten auf das Flambieren des Fisches, was er bis heute mit leuchtenden Augen erzählt. Die Geschenke werden vom jüngsten Familienmitglied unterm Baum hervorgefischt und den Beschenkten nach und nach übergeben. So haben alle der Reihe nach etwas zum Auspacken. Und natürlich wird die Weihnachtsgeschichte gelesen, es wird gesungen und musiziert und inzwischen singen auch die Enkelkinder fröhlich „Ihr Kinderlein kommet“. Selbstverständlich können die Schneiders die meisten Lieder und viele Weihnachtstexte auswendig.

Nur die zwei Weihnachten nach dem Tod der jüngsten Tochter Meike hat die Familie nicht groß gefeiert. Da blieben sie unter sich. Mit ihren beiden anderen Töchtern besuchten sie an Heiligabend Meikes Grab. Doch auf dem Friedhof ging ihnen selbst das Bonhoeffer-Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ schwer über die Lippen.

Die weihnachtliche Vorprägung aus der Kindheit ist beim Ehepaar Schneider sehr unterschiedlich: Er kommt aus einer atheistischen Familie. An Weihnachten feierte die Kleinfamilie, Vater, Mutter, zwei Söhne zwar mit geschmücktem Baum, Lichtern, Geschenken und Kartoffelsalat mit Würstchen. Aber der Zeitplan richtete sich nach dem Schichtplan des Vaters. Der hatte als Hochofenarbeiter mal Heiligabend, mal Silvester frei, so gab es Bescherung bisweilen erst am ersten Weihnachtsfeiertag. Kirche und Glaube hielten die Eltern für Humbug, das galt zunächst auch für die Söhne. Kirchgang und Gesang ersetzte eine Schallplatte.

Mit zwölf Jahren besuchte Nikolaus Schneider den Konfirmandenunterricht, seine Eltern ließen ihn gewähren – und er war der einzige aus seiner Wohnumgebung, einer typischen Arbeiterkolonie, der aufs Gymnasium ging – eine frühe Erfahrung von Minderheit und Toleranz. Auch Anne Schneider kommt aus einer Arbeiterfamilie. Der Großvater war Bergmann; der Vater, der einst Berufsfußballer werden wollte, wurde ohne Abitur Markscheider in Clausthal-Zellerfeld, die Mutter Verkäuferin bei Hertie. Aber die Großfamilie war vielfältig christlich geprägt. Es gab Baptisten, der Vater konvertierte seiner evangelischen Frau zuliebe vom Katholizismus und zu Weihnachten gehörte für Anne Schneider von Kindsbeinen an der Gottesdienst, die Weihnachtsgeschichte, der Streit über die Predigt, Singen – und eben die ganze Sippschaft, die sich wechselweise an den Feiertagen besuchte. Sie ging in Salzgitter aufs Gymnasium, einer künstlich von den Nazis hochgezogenen Stadt für Bergleute, in der es Ende der 1950er Jahre ein alteingesessenes Bürgertum schlicht nicht gab, sodass der Bildungswunsch ihrer Eltern auch für Mädchen im Gegensatz zur Umgebung ihres späteren Mannes Nikolaus nichts Außergewöhnliches war.



Wenn die Eheleute Schneider über ihre Eltern sprechen, so ist auch bei feinstem Gehör kein Hauch von Kritik zu vernehmen. Im Gegenteil, diese beiden Angehörigen der 68er wissen, dass sie deren Wunsch, ihre Kinder mögen es einmal besser haben, Bildung und Chancen verdanken. Die rasante Veränderung in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft kann Nikolaus Schneider an den Weihnachtsgeschenken seiner Kindheit exemplifizieren: eine Tafel Schokolade, die er in zwölf Teile brach, um sich einmal im Monat zu verwöhnen, ein paar Jahre später ein Tretroller aus Eisen, der mittels einer wippenden Ratsche fortbewegt wurde, später ein Fahrrad.

Sein jugendliches Interesse an Fragen des Glaubens machte Nikolaus Schneider früh weihnachtlich selbst ständig: Er feierte ohne seine Familie im Gottesdienst und mit Vater, Mutter und Bruder zu Hause. Als er später Theologie studieren wollte, war das für den politisch links orientierten Vater zunächst ein Schock und auch die Mutter hätte ihren Sohn lieber als Arzt reüssieren gesehen. Doch die Eltern waren sehr tolerant: Zur Ordination des Sohnes ging selbst der Vater mit in die Kirche. Die Brücke bildete die Bekennende Kirche. Unsere Leute saßen im KZ, euer Niemöller auch, so die väterliche Argumentation, dem der theologisch begründete Einsatz des Sohnes für Gerechtigkeit durchaus gefiel. Die Mutter trat später ihres Jungen wegen sogar wieder in die Kirche ein, engagierte sich in der Frauenhilfe und organisierte die Feier ihrer goldenen Konfirmation.

Junge Pfarrfamilien erleben an Weihnachten kein Idyll. Im Gegenteil, Weihnachten ist oft die Bewährungsprobe für das ohnehin durch höchste Erwartungen belastete halböffentliche Familienleben. Das war auch bei Anne und Nikolaus Schneider nicht anders, die 1970 noch während des Studiums geheiratet haben. Sie hatte ihren Berufswunsch Pfarrerin gekippt, weil die rheinische Landeskirche bis 1975 den Zölibat für Frauen forderte, und wurde Lehrerin. Aber natürlich waren beide imprägniert mit den Ideen ihrer Generation von der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Anne Schneider kann sich noch heute aufregen, wenn sie davon erzählt, wie ihr Mann seine erste Pfarrstelle in Rheinhausen antrat, wo kaum ein Pfarrer mit einer berufstätigen Frau verheiratet war und er deswegen nicht nur von seinen Kollegen bemitleidet wurde. Kaufte er mit den Kindern auf dem Arm am Markt ein, gab es wohlmeinende Ratschläge von Frauen für Anne Schneider: Der Herr Pfarrer muss doch nicht auf den Markt gehen. Wenn Sie das nicht schaffen, sagen Sie uns Bescheid, wir bringen das.

An Weihnachten hieß das für die Pfarrfrau: Vorbereitungen fürs Fest zu Hause weitgehend alleine zu bewältigen, auch wenn die Unterrichtszeit bis zum 22. Dezember läuft, und brav zuzusehen, wie der Mann der verwitweten Pfarrfrau beim Baumaufstellen hilft in der festen Erwartung, dass die eigene Frau den Baum schon irgendwie gerade bekommt. Und gerade an Heiligabend will der junge Pfarrer besonders gut predigen, um die vielen Menschen, die an diesem Tag kommen, auch übers Jahr zum Glauben und zur Gemeinschaft zu locken.

Anne und Nikolaus Schneider haben viele Weihnachten miteinander erlebt und sind aneinander gewachsen. Sie gestalten ganz bewusst gemeinsam den Advent. Zu den Herrnhuter Losungen wird in der Adventszeit der „Andere Advent“ gelesen, ein beliebter Kalender mit Bildern, Gedichten, kurzen Besinnungen, den auch die Kinder und Freunde lesen. Die Wohnung wird geschmückt, sie muss Advent atmen, sagt Nikolaus Schneider. Und an einem verabredeten Tag geht das Paar gemeinsam Geschenke kaufen. Er schreibt seiner Frau und seinen Töchtern jedes Jahr einen Brief zu Weihnachten, sie erspart ihm, ein weiteres Mal sich in den Einkaufsrummel zu begeben, von dem er schlechte Laune bekommt.

Die Frage, was sie sich zu Weihnachten wünschen, beantworten sie gemeinsam: dass Freundschaften über die Distanz zwischen Berlin und dem Rheinland weiterbestehen. Dass die Töchter weiterhin zu einem erfüllten Leben finden und die Enkelkinder fröhlich wachsen und gedeihen. Dass die Nationen ihre Egoismen überwinden und mit Gemeinsinn ein soziales Europa etablieren und sich die Kirchen weiter annähern. Es möge unser Familienleben so glücklich bleiben, wie es jetzt gerade ist, fügt Anne Schneider leise hinzu.

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