Sie haben schon viele Biografien geschrieben. Warum jetzt auch noch eine über Jesus von Nazareth?
Alois Prinz: Es ist eine große Herausforderung, über jemanden zu schreiben, der nach christlicher Lehre nicht nur Mensch, sondern auch Gott war.
Und – glauben Sie daran?
Prinz: Ich versuche, es zu verstehen. Die Formel „Wahrer Gott und wahrer Mensch“ kann man vielleicht am besten nachvollziehen, wenn man Jesus begleitet. Ihm blieb anscheinend nichts Menschliches fremd. Er hat gern gegessen und getrunken, hat gelacht und geweint – und vor allem hat er gelitten, war furchtbar allein und hat Todesängste ausgestanden. Andererseits hat er deutlich gemacht, dass er aus einer Kraft lebt, die nicht von dieser Welt ist. Und das wollte er an seine Mitmenschen – und ich behaupte: auch an uns – weitergeben. Wir sind Kinder dieser Welt, und gleichzeitig tragen wir etwas in uns, was uns weit über diese Welt hinaushebt.
Lässt sich überhaupt irgendetwas über Jesus sicher sagen?
Prinz: Fachleute sind der Meinung, dass man keine Jesus-Biografie schreiben kann. Die Quellen über sein Leben, also vor allem die Evangelien, weisen zu große Lücken auf und sind in biografischer Hinsicht fragwürdig. Andererseits beruht der christliche Glaube auf dem, was Jesus gesagt und getan hat. Seine Botschaft ist sein Leben, und wir müssen alles versuchen, uns ein Bild von diesem Leben zu machen.
Schon in Ihrem Vorwort betonen Sie, es gebe keine Gewissheit über Jesus.
Prinz: Ja, das finde ich das Wunderbare an ihm. Schon seine Zeitgenossen und engsten Freunde haben sich in ihm getäuscht. Einige sahen einen Propheten in ihm, andere einen politischen Revolutionär. Jesus hat sich diesen Festlegungen entzogen. Das ist bis heute so. Immer wenn ihn jemand vor den Wagen einer bestimmten Partei oder Weltanschauung spannt, zeigt sich, dass er sich nicht einordnen und vereinnahmen lässt. Er verhindert, dass wir uns zu sicher sind. Er lässt uns keine Ruhe, ist uns immer voraus. Wir müssen uns auf ihn einlassen und nicht er sich auf uns. Und so werden wir nie mit ihm fertig und bleiben gleichzeitig offen.
Warum schreiben Sie dann ein ganzes Kapitel darüber, wie Jesus möglicherweise ausgesehen hat?
Prinz: Ich will auf spielerische Weise eben diese Frage aufwerfen: ob es handfeste Informationen über Jesus gibt oder ob wir uns nur Bilder von ihm machen. Unsere Bilder müssen ja nicht grundsätzlich falsch sein. Sie spiegeln wider, was Jesus bei Menschen bewirkt. Allerdings müssen wir diese Bilder immer wieder korrigieren im Hinblick darauf, wie sich Jesus selber gesehen hat und von uns gesehen werden wollte.
Selbst über Jesu Kindheit und Jugend ist kaum etwas bekannt.
Prinz: Darüber weiß man eigentlich gar nichts. Heute kann man allerdings viel darüber sagen, wie ein Kind in einem Dorf wie Nazareth aufgewachsen ist, über seine Lebensumstände, wie es erzogen wurde und was es gelernt hat. Über den jugendlichen Jesus findet sich in der Bibel eigentlich nur die Geschichte vom Zwölfjährigen im Tempel. Die hat es aber in sich.
Inwiefern?
Prinz: Da bekommt das Bild von der Heiligen Familie einen hässlichen Riss. Nach ihrem Besuch in Jerusalem finden Josef und Maria ihren Sohn nicht mehr. Als sie ihn nach angstvollen Tagen endlich im Tempel entdecken, versteht er die Sorgen seiner Eltern nicht und antwortet auf ihre Vorwürfe nur, dass er doch im Hause seines Vaters sein müsse – hartherzige, ja unverschämte Worte. Für Jesus gibt es Wichtigeres als die Liebe seiner Eltern, nämlich die Liebe seines himmlischen Vaters, die ihn wirklich frei macht. In diesem Sinne hat Jesus später betont, dass niemand sein Jünger werden kann, der nicht bereit ist, Vater und Mutter zu verlassen.
Jesus war hartherzig und unverschämt?
Prinz: Ja, er konnte liebevoll und sanftmütig sein und noch dem größten Sünder vergeben. Aber wenn es darum ging, sich in letzter Konsequenz zu entscheiden, war er von unerbittlicher Härte. Einen jungen Mann, der bereit war, ihm zu folgen, aber vorher noch schnell seinen Vater beerdigen wollte, herrschte er an: Lass die Toten ihre Toten begraben.
Sie stellen Bezüge vor allem zu Literatur, bildenden Künsten und Philosophie her. Reicht Ihnen die Theologie nicht?
Prinz: Die Theologen haben Jesus nicht gepachtet. Ich schätze an vielen literarischen Texten, dass sie die Fragen nach Gott von unten angehen. Es wird erzählt, wie Menschen fast unausweichlich auf religiöse Fragen stoßen. Sie öffnen uns die Augen dafür, dass Religion eine natürliche Dimension unseres Lebens ist.
An wen denken Sie da zum Beispiel?
Prinz: Bei Hermann Hesse kann man lernen, was Feindesliebe heißt. In einem seiner Bücher schildert er einen Mann, der sich in einem Hotel über seinen lauten Zimmernachbarn ärgert. Langsam steigert er sich hinein in einen blinden Hass gegen diesen anderen Hotelgast, bis ihm bewusst wird, dass er sich ein Feindbild aufgebaut hat, das mit diesem Menschen nichts zu tun hat. Nun beginnt er, sich die Lebensgeschichte des fremden Mannes vorzustellen: wie er Kind war, wie er alt wurde, seine Krankheiten und Schicksalsschläge. Nach einer langen, anstrengenden Nacht ist es dann geschafft: Aus dem Feind ist ein Bruder geworden.
Was sind die Evangelien für Sie – mehr als nur Literatur?
Prinz: Ich bin in einem sehr christlichen Umfeld aufgewachsen, habe aber einen eigenen Zugang zu Religion und Christentum erst über die Literatur und Kunst gefunden. Für mich ist es selbstverständlich, dass poetische Bilder, Legenden und Gleichnisse oft mehr Wahrheit enthalten als sogenannte historische Fakten.
Zum Beispiel?
Prinz: Das sogenannte Wunder der Brotvermehrung. Die Geschichte beginnt mit einem unlösbaren Problem: Mit wenig Brot und Fisch sollen viele Menschen satt werden. Das ist unmöglich. Jesus schickt die Leute nicht weg, was nur vernünftig wäre. Er blickt zum Himmel und fordert seine Jünger auf, Fische und Brote zu verteilen. Ich verstehe das so: Wer zum Himmel blickt, wird sich bewusst, wie beschenkt er ist. Er wird freigiebig und großzügig. Mit dieser Haltung kann auch das Wenige, das man zu geben hat, Not mildern und so Reichtum erzeugen. Alle werden satt, und es bleibt sogar noch etwas übrig.
Ein netter Versuch, eine unglaubwürdige Wundergeschichte schönzureden?
Prinz: Nein. Erstens hat Jesus immer wieder gesagt, dass die Menschen nicht aufgrund von Wundern an ihn glauben sollen. Zweitens geht klar aus vielen Wundergeschichten hervor, dass erst der Glaube wunderbare Ereignisse bewirkt. „Dir geschehe, wie du glaubst“, sagt Jesus. Das heißt: Erst müssen Menschen ihre eigene Armut, ihre Beschränktheit und Ohnmacht sehen und anerkennen, um dann ihr ganzes Vertrauen auf Jesus zu legen. Dann erst ist so etwas wie ein Wunder möglich. Voraussetzung dafür ist ein innerer Wandel, den man nicht sehen kann und den die Evangelisten mit Bildern zu beschreiben versuchen. Ob die Brotvermehrung so stattgefunden hat oder nicht, ist eine zweitrangige Frage.
Ihr Jesus-Buch erscheint in einem Jugendbuchverlag. Warum sollte ein Jugendlicher es lesen?
Prinz: Jugendliche lassen sich von Vorbildern prägen. Die meisten Vorbilder heute zeichnen sich durch Leistung, Geld, Schönheit oder Erfolg aus. Mir kam es darauf an zu zeigen, dass ein Typ wie Jesus, der nichts aus sich macht, der nicht vom Tempel springt, um die Massen zu gewinnen, der keinen Erfolg hat und nicht umjubelt war – dass der viel mehr drauf hat als die üblichen Medienstars. Ihn zeichnen vor allem seine Freiheit und Unabhängigkeit aus. Schon als Kind wehrte er die Erwartungen seiner Eltern ab und begehrte als Erwachsener gegen die lebenszerstörenden Ängste und Vorschriften auf. Er wollte keine Nachfolger, die sich zu ihm bekennen, nur weil sie zu einer Gruppe gehören wollen oder sich für besonders fromm halten. Er wollte Menschen, die aus dem gleichen Vertrauen leben wie er.
Und wie kann man dieses Vertrauen nachleben?
Prinz: Genau das hat ein gut situierter Mann auch einmal Jesus gefragt. Jesus antwortete, er solle all sein Geld verschenken. Dazu konnte sich der junge Mann nicht überwinden. Vertrauen heißt, sich fallen zu lassen, über alle Versicherungen und Ängste hinweg. Dem steht unser Argwohn im Wege, dass wir ins Bodenlose fallen. Darum behalten wir doch noch Sicherheiten in der Hinterhand.
Was unterscheidet Ihr Buch von den Jesus-Büchern des Papstes?
Prinz: Papst Benedikt XVI. sieht Jesus vor allem in seiner Beziehung zu seinem göttlichen Vater, der Schwerpunkt liegt auf dem Jenseitsbezug. Bei mir steht der Mensch Jesus im Mittelpunkt, als Kind seiner Zeit, eingebettet in die historischen Ereignisse und geprägt von den Lebensumständen damals. Natürlich lebt auch mein Jesus im Vertrauen auf seinen göttlichen Vater, aber das zeigt sich nur in seinen Taten und darin, was er bei den Menschen bewirkt. Ich bleibe sozusagen in der Welt und zeige, wie sich das Göttliche darin äußert. Außerdem sind die Jesus-Bücher des Papstes mehr wissenschaftliche Abhandlung, ich gestalte die Geschichte des Jesus von Nazareth erzählerisch.
War Jesus also ein selbstbewusster und charismatischer frommer Jude, dessen Ideen sich verbreiteten, weil sozial Schwache sie attraktiv fanden?
Prinz: Es stimmt ja, dass sich viele Menschen zu den ersten Christengemeinden hingezogen fühlten, weil darin ein sehr toleranter, sozialer Geist herrschte. Viele Frauen schlossen sich diesen Kreisen an, weil sie Anerkennung fanden, die ihnen in der jüdischen Gesellschaft oder in der römisch-griechischen Welt versagt wurde. Wäre es aber nur das Soziale am Christentum gewesen, dann wäre aus dieser Bewegung nie eine Weltreligion geworden. Feindesliebe und Gleichberechtigung aller Menschen haben eine religiöse Wurzel, nämlich die Einsicht, dass vor Gott alle gleich sind. Religion erreicht die tieferen Schichten von Menschen. Erst wenn Menschen im Sinne von Jesus umkehren, also sich tiefgreifend verändern, werden sie fähig, wirklich sozial zu handeln.
Was ist Ihr Jesus-Buch also – historisch-kritisch und doch eher ein Glaubensbuch?
Prinz: Ich beziehe Erkenntnisse der historisch-kritischen Forschung mit ein. Wo diese aber nicht mehr weiterhelfen, also in Fragen des Glaubens, verwende ich andere Schlüssel. Das können solche der Theologie sein, aber eben auch der Kunst, der Philosophie und der Literatur.