Auf der nordfriesischen Halbinsel Nordstrand soll es gewesen sein, dass ein evangelischer Pfarrer seiner Gemeinde regelmäßig die Leviten las. Gegen den Alkoholkonsum bezog der wackere Mann auf der Kanzel Position. Doch weil die Nordfriesen auf ihren Rum nicht verzichten wollten, versteckten sie ihn im Kaffee unter einer Sahnehaube. So handelten sich die Trinker und das Getränk den Namen „Pharisäer“ ein. Diese vergnügte Geschichte hat einen Makel: Sie zementiert ein Bild von den Pharisäern, das kaum etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat, wohl aber mit einem über Jahrhunderte tradierten Vorurteil. Pharisäer, so die weit verbreitete Meinung, sind eine Gruppe von Heuchlern, von selbstgerechten und bigotten Besserwissern.
Diese Vorstellung geht auf kritische Texte des Neuen Testaments zurück, vor allem auf dieses Gleichnis: „Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener.“ (Lukas 18, 9ff.)
Darf man dieser Sicht trauen? Die Verfasser der Evangelien im ersten und frühen zweiten Jahrhundert haben die zweifellos kritischen Bemerkungen Jesu gegen die kleinkarierte Gesetzesauslegung der Pharisäer eher überpointiert. Im Neuen Testament tauchen die Pharisäer („die Abgesonderten“) immer dann auf, wenn es um die exakte Auslegung der jüdischen Gesetze und ihrer 613 Ge- und Verbote geht. Sie sind bestens darüber informiert, was in der Thora, den fünf Büchern Mose, steht. Sie verwickeln die Menschen in Streitgespräche, achten darauf, dass alles gesetzeskonform abläuft. Aber: Der Grat zwischen einer genauen Kenntnis der Gesetze und einer penetranten Belehrung anderer ist schmal. Und er ist riesengroß zwischen moralischem Pflichtbewusstsein und Heuchelei.
Eine Laienbewegung aus der städtischen Mittelschicht und aus vielen Berufen
Wer sind die Pharisäer wirklich? Heute wird man sie am ehesten mit den Ultraorthodoxen vergleichen können. Aber damals? Bei ihnen handelt es sich um eine große religiöse Partei, eine Laienbewegung, organisiert in Genossenschaften. Sie gewann im Jahrhundert vor Christi Geburt politisch an Gewicht, verlor es jedoch wieder mit der Verstreuung der Juden in der Diaspora. Einer der brillantesten Theologen der Bibel war selbst Pharisäer: Paulus. Auch in den ältesten christlichen Gemeinden gab es Pharisäer. 6000 Mitglieder gehörten zur Zeit Jesu dieser Bewegung an, Menschen aus der städtischen Mittelschicht und vielen Berufen. Täglich lesen sie in der Thora. Sie wollen die jüdischen Gesetze für jede alltägliche Situation und bis ins Detail auslegen: Darf man am Sabbat, an dem nur 1000 Schritte zu gehen erlaubt ist, dabei Lebensmittel transportieren? Soll man aus religiösen Gründen vor jeder Mahlzeit die Hände waschen?
Man muss ein paar Dinge zur Ehrenrettung der Pharisäer sagen. Zunächst einmal: Sie waren außerordentlich wichtig für das Überleben des jüdischen Volkes nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahr 70 nach Christus – denn ohne die Rechtskenntnisse und Traditionstreue der Pharisäer wäre das Judentum in der Geschichte in größte Existenznot geraten. Und dadurch, dass die Pharisäer die Gesetze für jede alltägliche Situation zu interpretieren versuchten, entwickelten sie das jüdische Recht fort.
Das Negativbild der Pharisäer ist deshalb nur zum geringsten Teil berechtigt. Auch Jesus hat sich keineswegs durchgängig gegen sie profiliert. Er war wie sie ein gesetzestreuer Jude, der allerdings konsequenter auf das Wohlergehen der Menschen als auf den Wortlaut der Gesetze achtete.