Brief aus Tallinn
Wie viele sind wir? Estland zählt seine Bürger – natürlich per Internet. Notizen aus einer Online-Republik

„Island! Wie interessant!“ So reagierten noch vor einigen Jahren manche Deutsche, wenn jemand erzählte, er komme aus Estland. Oder sie fragten etwas unsicher nach der Lage im Baltikum: „Ist das das in der Mitte?“ Die ehemalige Sowjetrepublik, seit 1991 ein unabhängiger Staat, war eher unbekannt. Kein Wunder, wenn selbst die „Bild“-Zeitung sie noch Anfang der Neunziger als „Balkanstaat“ bezeichnet. Mittlerweile ist das Wissen über das Land an der Ostsee – das übrigens „ganz oben“ im Baltikum liegt, angrenzend an Lettland und Russland – erheblich gewachsen. Die Hauptstadt Tallinn war im vergangenen Jahr Kulturhauptstadt Europas. Das brachte viele zusätzliche Reisende hierher, die meist begeistert heimkehrten. Auch die deutschen Medien haben Stadt und Land entdeckt: Tallinn als die ungeduldige, aufstrebende, boomende Perle der Ostsee. Estland als stilles, vergnügliches und preiswertes Urlaubsland.

Esten wählen per SMS

Aber Estland ist natürlich noch mehr, zum Beispiel ein Internet-Land. Es verfügt weltweit über die meisten Anschlüsse pro Kopf. Die kostenlose Zugangsmöglichkeit zum Internet ist ge­setzlich festgeschrieben. Wer keinen eigenen Rechner hat, kann gratis an öffentlichen Terminals in Postämtern, Bibliotheken oder Dorfläden ins Netz. Alle Schulen sind online. Und bei Wahlen kann man per Mausklick oder SMS seine Stimme abgeben. 
Auch die Volkszählung, die hier zurzeit durchgeführt wird,  läuft natürlich überwiegend über Internet – nur in Ausnahme­fällen kommen „Volkszähler“ nach Hause.
Die Zählung ist eine große Sache. Im Vorfeld wurde viel Werbung gemacht: Auch in unserem Gemeindebüro ist eine Postwurfsendung mit zehn ­Informationsblättern und fünf Plakaten angekommen. Auf den Plakaten sind im Hintergrund Porträts von Esten in Volkstracht in Schwarz-Weiß zu sehen, während im Vordergrund ein glücklicher, junger Mensch einen Luftsprung vollführt. Die Message ist klar: Volkszählung macht Spaß und verbindet uns mit unseren Vorfahren. Die Broschüre informiert darüber, dass die Teilnahme verpflichtend ist. Dass sonst eine Geldstrafe von bis zu 2000 Euro droht, steht dort allerdings nicht. Das wird aber wohl nicht allzu viele betreffen. Wir sind hier halt brave Leute – und sparsam.

Angekommen im sicheren Westen

Estland ist EU- und NATO-Mitglied und hat in den vergangenen Jahren politisch an Gewicht gewonnen: Wir „dürfen“ in Afghanistan mitmachen, waren auch im Irak dabei. Wir haben eigene Kriegstote zu beklagen. Wir sind Mitglied im Netz der NATO-Cyber-Verteidigung. Und nicht zuletzt: Unser Premierminister Andrus Ansip speiste kürzlich in Berlin im engen Kreise mit Angela Merkel und diskutierte mit über europäische Finanzpolitik. Zwanzig Jahre nach der Befreiung aus dem sowjetischen Gefängnis ist Estland angekommen im sicheren Westen und im reichen Norden. Viele Menschen zieht es dennoch weg von hier, aus wirtschaftlichen Gründen. Immer wieder bekomme auch ich mit, dass Menschen ihre Koffer packen. Ziel der Ausreise ist häufig Finnland – über die Ostsee sind es nur 80 Kilometer nach Helsinki – oder auch England oder Deutschland. Länder, in denen man in einigen Branchen das Vielfache verdienen kann wie hier.Das estnische Durchschnittsgehalt liegt bei nur knapp 900 Euro, die Lebenshaltungskosten sind aber nicht entsprechend niedrig. Manche Grundnahrungsmittel wie Butter, Zucker, Nudeln, besonders Obst und Gemüse sind teurer als in Deutschland, ebenso auch Schuhe und Kleidung.

Bloß keine Staatsschulden!

Mitte März erlebte Estland den größten Streik seit der Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit. Angefangen haben die Lehrer, die einen höheren Lohn forderten, andere Gewerkschaften schlossen sich an. Die Regierung aber machte nicht viel Hoffnungen und verwies darauf, dass der Staat keine Schulden machen darf. Natürlich ist auch das eine nachvollziehbare Argumentation. ­Estland – seit Januar 2011 in der Euro-Zone – will und wird kein Sozialstaat werden auf Kosten kommender Generationen. Dem Land ist es gelungen, den Weg der ausufernden Staatsverschuldung nicht mitzugehen. Als dafür vielgelobtes Wirtschaftsland gehört es nun zu den Unterstützern des Euro-Rettungsschirms. Die demonstrierenden Lehrer in Tallinn schrieben dazu süffisant auf eines ihrer Plakate: „Lehrer-Durchschnittsgehalt in Griechenland: 1900 Euro, in Estland 670 Euro. Fazit: Unterstützen wir ­Griechenland!“

Wie viele Menschen genau Estland den Rücken kehren? Manche Medien sprechen von 300.000 innerhalb der vergangenen 20 Jahre. Der Premierminister überraschte damit, dass er die Zahl nur auf 30.000 bis 60.000 schätzt. Kein Wunder, bei so vielen Emigrationen wäre die Regierung ja auch gezwungen, aktiv etwas gegen die Lebensumstände zu tun, welche die Menschen zur ­Ausreise zwingen. Ob die für Mai erwarteten Ergebnisse der Volkszählung die wirkliche Zahl ans Licht bringen, bezweifle ich. Ich denke auch, darum geht es gar nicht. Diese Volkszählung sehe ich eher im Kontext von Google Street View, Videoüberwachung, Onlinenetzwerken, elektronischen Fingerabdrücken und satel­litengeorteten Mobiltelefonen – einer Entwicklung, in der es um die Sammlung möglichst vieler Daten von Bürgern geht, die im Zweifel auch gegen diese verwendet werden können. Stark ist der, der seine Gegner oder seine Bürger in der Hand hat.

Frei ohne Beamtenstatus

Gottes Kraft ist aber doch immer gerade in den Schwachen mächtig. Diese Hoffnung trägt mich und meine Gemeinde. Als Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinde innerhalb der Estnischen evangelisch-lutherischen Kirche (EELK) fühle ich mich den Menschen hier sehr nahe – den Einheimischen ebenso wie den etwa 80 Gemeindemitgliedern. Zu diesen gehören Deutsche, die auf Zeit hierherkamen wie Angestellte von Banken oder IT-Unternehmen, Lehrer, Botschaftsangehörige, EU-Beamte oder ­Studenten, aber auch hier lebende – junge und alte – Russland­deutsche, Deutschbalten, interessierte Esten oder andere Europäer.

Die Gemeinde gibt es seit 1991, ich kam 2006 hierher. Meine Liebe zum Baltikum besteht schon seit den frühen Neunzigern, als ich zum ersten Mal als Tourist hierher reiste. Die Aufgabe, hier deutschsprachiges Gemeindeleben zu fördern, war also wie maßgeschneidert für mich. Eine Entsendung durch die EKD war damals nicht möglich. So schied ich freiwillig aus dem Beamten­status aus – unter Beibehaltung meiner Ordinationsrechte – und fing hier als Pfarrer der EELK an.

Ein baltisches Disneyland?

Ich habe diesen Schritt noch keinen Moment bereut. Und das nicht nur, weil ich hier mit einer Estin eine Familie gegründet habe. Land, Leute und Wetter liegen mir einfach. Ich mag die Weite des Himmels und auch die vieler Herzen. Dunkelheit, Kälte und Nässe im Winter – das stört mich nicht. Klar, als Pfarrer der hiesigen Kirche bekomme ich ebenso wenig Geld wie die einheimischen Kollegen und arbeite deshalb noch als Lehrer in diversen Schulen, für den Norddeutschen Rundfunk, im Sommer als Reiseleiter . . . Aber das macht mir Spaß und ich genieße diese vielfältigen Herausforderungen. Zudem ist mein Hiersein nicht befristet: Ich habe vor, im Baltikum zu bleiben. So Gott will.

Aber natürlich sind nicht alle Ausländer hier glücklich. Einige reisen wieder ab, weil sie Probleme mit der Sprache, der Menta­lität, mit einheimischen Konkurrenten oder den Behörden hatten, oder weil sie einfach nicht genug verdienen können. Vor allem die, die hier eine eigene Firma aufbauen und halten wollen, ­haben es schwer. So sind die Probleme der Einheimischen uns gar nicht allzu fern. Und gemeinsam hoffen wir, dass der Staat trotz aller Sparmaßnahmen Spielräume findet und nutzt, um den Menschen hier ein angemessenes Leben zu ermöglichen. Sonst verkommt Estland zu einem baltischen Disneyland – schön nur für Touristen.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.

Väike-Maarja Kirik

The church in Väike-Maarja was founded in 1346 and consecrated to the virgin Mary. During renovations in 1873 the present day stone tower was built. It reached 61.4 meters high

liebes team,
warum werden meine texte nicht online gestellt ???

Grüße

Lieber Kommentarschreiber - danke für Ihre Beiträge, wir können jedoch nichts veröffentlichen, was nicht auf deutsch zu lesen ist. Wenn Sie Ihren Beitrag übersetzen wollen, dann veröffentlichen wir ihn auch. Mit freundlichem Gruß Ihre chrismon.de Redaktion

DER MARIENHOF NACH 1891

Elisabeth ("Tante Betty") Hoffmann schreibt in ihrer "Hoffmann´schen Familien-Chronik"

"Im neuen Jahr [1817] wurde Vater [Bettys Schwiegervater, Johann Peter H.] die Landstelle Müüriku bei der Kirche zu Klein-Marien zum Kauf angeboten; und obgleich das Haus alt und klein, ein Garten kaum vorhanden - der Platz dazu nur unbedeutend, waren die Eltern doch froh wieder ein eigenes Heim zu besitzen. ......Sie benannten ihre Besitzung "Marienhof".........

Am 30.April [1890] starb Schwester [Schwägerin] Minna, am 5. Mai wurde sie begraben. Ich habe seitdem Marienhof nicht wiedergesehen. Für mich, für uns Geschwister alle, wurde es an jenem Tage zu Grabe getragen.

Im Herbst [1890] verließ Bruder [Schwager] Georg "Marienhof", zog mit den Töchtern nach Reval, im Frühling darauf wurde es(r) verkauft nachdem es(r) 74 Jahre in Hoffmann´schen Besitz gewesen [war]."

Nachdem im Rundbrief 2001 über Johann Peter berichtet wurde, sollen hier nun noch weitere Informationen über "unseren Marienhof" zusammengetragen werden.

Leider lässt sich nicht mehr feststellen, wer im Frühjahr 1891 das Hoffmann´sche Anwesen gekauft hat.

Doch nur zwei Jahre später kam der "Marienhof"- oder "Müüriku mois" wie er jetzt wohl hieß - an die Familie Allik. In einem Archiv in Tallinn findet sich überdies der Hinweis, dass der Gutshof damals sowohl einen Arzt als auch eine Krankenstation beherbergte.

Die estnische Landreform von 1920 führte dann zur Verstaatlichung des "Marienhofs", aber offenbar schon 1928 hat die Enkeltochter des Allik, Helmi Kitsberg, das Gut sowie zwei weitere Bauernhöfe (wohl gleichfalls im Gebiet des Kirchspiels Klein-Marien) zurückgekauft.

Vermutlich 1940, zu Beginn der ersten sowjetischen Okkupation, hat Helmi Kitsberg dann den "Marienhof" dem Staat "geschenkt", zum "Ausgleich" bekam sie zunächst Wohnrecht und wurde später auch nicht nach Sibirien deportiert.

Aber schon zu Beginn der fünfziger Jahre wurden Helmi Kitsberg dann doch die genannten "Vergünstigungen" genommen und sie musste den "Marienhof" verlassen. Sie hat zeitweise in Väike-Maarja (Klein Marien) gelebt und fand auf dem dortigen Friedhof [wohl im Jahre 1960] - genau wie auch unsere Vorfahren - ihre letzte Ruhestätte.

Der "Marienhof" war dann bis zum Jahre 1991 (dem Ende der kommunistischen Herrschaft) Teil der "Uus-Elu- Kolhoos" [die das Gebiet um Triigi und Väike- Maarja umfasste].

Das ehemals prächtige Anwesen ist heute "just a brown wooden house with eight apartments"