In Kanada gehört der Pfarrer praktisch zur Familie. Gibt's ein Problem, wird der Seelsorger um Rat gefragt

Kanada ist größer, weiter und viel kälter. Wir waren überwältigt, als wir im Oktober 1988 von der DDR in die Provinz Alberta auswanderten. Die Evangelisch-Lutherische Kirche Kanadas hatte uns eingeladen, in einer deutschsprachigen Gemeinde zu arbeiten. Der Kontakt kam über einen kanadischen Kollegen zustande. Während seines DDR-Besuchs erzählte er uns von einem Mangel an deutschsprachigen Pfarrern in seiner Heimat.

Ob wir uns vorstellen könnten, in Kanada zu arbeiten? Wir diskutierten mit unseren drei Kindern das Für und Wider. Schließlich stimmten wir zu. Mit einem offziellen Einladungsschreiben der Alberta-Nord-Synode beantragten wir den Umzug, der uns – unter Beibehaltung der DDR-Staatsbürgerschaft – tatsächlich bewilligt wurde. So kamen wir von dem thüringischen Dorf Milbitz in das kanadische Städtchen Camrose.

Von Alberta ins milde Vancouver

Was für ein Kontrast zur überschaubaren DDR. Die Weite der kanadischen Prärie beeindruckte uns ebenso wie das intensive Blau des Himmels. Und diese endlosen Straßen, die sich schnurgerade ins Land strecken. Wenige Tage nach unserer Ankunft erlebten wir den ersten Wintereinbruch. Ein Blizzard ließ die Temperaturen in wenigen Stunden von plus fünf auf minus 40 Grad Celsius fallen. Heftiges Schneetreiben. Unsere Kinder, ­damals sechs, acht und 15 Jahre alt, fanden das ganz toll. Am nächsten Morgen wollten sie sich wie zu Hause in Thüringen im Schnee tummeln. Nach einer halben Stunde kamen sie mit angefrorenen Ohrläppchen zurück ins Haus. Das könnte ihnen heute nicht mehr passieren.

Wir leben jetzt seit 20 Jahren in Vancouver. An der Westküste ist das Klima milder als in der Prärie. Die Temperatur fällt am ­Pazifik selten unter den Gefrierpunkt. Die deutschsprachige St.-Markus-Gemeinde von Vancouver wurde vor mehr als 50 Jahren gegründet. Damals gab es hier noch etliche deutsche Gemeinden verschiedener Konfessionen. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten zahlreiche Deutsche ein. Inzwischen haben die meisten Kirchen ihre deutschsprachige Ausrichtung aufgegeben. Die ­Kinder der Einwanderer bevorzugen Englisch. Im Vergleich zur Nachkriegszeit ziehen nur noch sehr wenige Deutsche zu.

Kirchen habe es schwer in Britsh Columbia

Vancouver zählt zu den schönsten, aber auch teuersten Städten der Welt. Die Lage am Pazifischen Ozean ist einmalig. Berge und Regenwald sind nicht weit, eine  Großstadt am Rande der Wildnis. Nirgends in Nordamerika stehen die Leute der Kirche ­kritischer gegenüber als hier in Kaskadien. So heißt die Region, die neben der kanadischen Provinz British Columbia auch die US-amerikanischen Bundesstaaten Washington und Oregon umfasst.

In British Columbia hatten es die etablierten Religionen und Kirchen schon immer schwer. Bereits 1881 klagte der anglikanische Bischof George Hills über die religiöse Gleichgültigkeit vieler Pioniere an der Westküste Kanadas. Bei einer Umfrage im Jahr 2001 gaben 36 Prozent der Befragten in British Columbia an, keiner Religion anzugehören, der kanadische Durchschnitt liegt bei 19 Prozent.

Neue Art von Naturreligion

Bei Gesprächen hören wir oft: „Religiös bin ich nicht, aber ­spirituell.“ Worin Sinn und Zweck des Lebens bestehen und ­welche Werte wichtig sind, bestimmt jeder für sich. Stärker als anderswo verstehen sich hier die Menschen als Advokaten individueller Freiheiten. Hinzu kommt eine neue Art Naturreligion: Die Erde, die Schöpfung werden in den Mittelpunkt aller Ver­ehrung gerückt. Viele gehen in den Wald oder an den Strand, wenn sie Gott oder ihren inneren Frieden finden wollen. Mich erinnert das oft an einen Briefwechsel zwischen Karl Barth und Carl Zuckmayer: Barth ermahnt seinen Freund, dass wir in der Schöpfung zwar den Schöpfer finden, nicht aber den Erlöser.

In Vancouver ist es für einen Pastor nichts Besonderes, eine Hochzeit oder Trauerfeier am Strand, in den Bergen oder in einem der schönen Parks zu halten. Einmal fragte ein deutscher Reiseanbieter an, ob ich Hochzeiten auf einem Gletscher feiern würde. Ein anderer Pfarrer trug einmal die Asche eines Freundes auf ­einen schnee- und eisbedeckten Vulkan in der Nähe von Van­couver. In 3286 Metern Höhe verstreute er die Asche – wie es sich der Verstorbene gewünscht hatte. Die unvergleichliche Natur wird eben oft und gerne mit einbezogen.

Die Schattenseiten von Vancouver

Vancouver hat auch seine Schattenseiten. In der Innenstadt leben 15 000 Drogenabhängige unter erbärmlichen Bedingungen. Damit einher geht eine hohe Beschaffungskriminalität, von der häufig arglose Touristen betroffen sind. Weil das Klima mild ist, kommen Obdachlose aus anderen Teilen Kanadas nach Vancouver.

Die St.-Markus-Gemeinde versucht, mit ihren bescheidenen Mitteln, diesen Menschen beizustehen. Unsere Jugendgruppe gibt einmal im Monat in einem der Brennpunkte der Stadt belegte Brote, warme Getränke und Kleidung aus. Einmal im Jahr kochen Gemeindeglieder für die Obdachlosen und Hungrigen in einer kirchlichen Einrichtung im ärmsten Viertel Kanadas, in Downtown Eastside. Darüber hinaus unterstützen wir mit Spenden soziale Organisationen, die in diesem Stadtgebiet arbeiten.

Hausbesuche sind wichtig für den Pfarrer

Die Mitglieder der St.-Markus-Gemeinde leben in einem 6000 Quadratkilometer großen Gebiet verstreut. Einige fahren fast 100 Kilometer, um den Gottesdienst zu besuchen. Die lange Anfahrt zur Kirche erschwert Gemeindeaktivitäten wie etwa die Kinder- und Jugendarbeit. Als Pfarrer legt man mit dem Auto weite Strecken zurück. Denn insbesondere Hausbesuche haben einen hohen Stellenwert.

In Kanada wird man von den Gemeindegliedern als Seelsorger stark in Anspruch genommen. Gibt es ein Problem, wird oft der Pastor angerufen und um Rat gefragt. Die Gemeinde wird zur Familie, und als Pastor wird man Teil der Familien. Diese persönliche Nähe erleichert die Predigtarbeit, die ich als fortgesetzte Seelsorge verstehe.

Frömmigkeit in der Gemeinde

Verglichen mit deutschen Großstadtgemeinden sind wir eine kleine Gemeinde mit 340 Mitgliedern. Im Durchschnitt besuchen etwa 120 Personen sonntags den Gottesdienst. In diesem großen und reichen Land ist die lutherische Kirche klein und arm. Weniger als zwei Prozent der Kanadier gehören der Evangelisch-Lutherischen Kirche (ELCIC) an. Es gibt keine Kirchensteuern. Jede Gemeinde finanziert sich selber und bestreitet alle Ausgaben von dem, was am Sonntag auf den Kollektenteller gelegt wird oder was sie an Spenden bekommt.

Interessant ist, dass unsere Gemeindeglieder aus verschiedenen Kontinenten kommen: aus Afrika, Asien, Südamerika und aus allen Teilen Europas. Menschen deutscher Abstammung, die unterschiedliche gesellschaftliche und kulturelle Prägungen haben. Denen aber allen die Verkündigung in deutscher Sprache wichtig ist. So ist auch die Frömmigkeit unserer Gemeindeglieder sehr unterschiedlich. Manche sind konservativ geprägt, andere evangelikal, pietistisch oder liberal.

Spezielle Angebote für deutsche Einwanderer

Eine der größten Herausforderungen besteht für uns darin, dass wir die Gemeinde nicht nur betreuen, sondern gleichzeitig aufbauen müssen. Als deutschsprachige Gemeinde ist das in Vancouver nicht einfach. Die jungen deutschen Einwanderer und Gastarbeiter stehen der Kirche meistens distanziert und kritisch gegenüber. Die Krabbelgruppe, die sich in unserer Kirche trifft, ist sehr beliebt. Die Resonanz auf andere Angebote der Gemeinde ist jedoch eher verhalten.

Eine große Herausforderung sehen wir derzeit darin, Angebote für deutsche Einwanderer zu entwickeln. Als Gemeinde können wir ihnen helfen, sich in den kanadischen Alltag zu integrieren. Da die Neuankömmlinge aber nirgends registriert sind, kann man sie nur schwer ausfindig machen. Wir versuchen, über bereits bestehende „Meet-up“-Gruppen Kontakte herzustellen. Wie gut das gelingt, muss sich zeigen.

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Sehr schönen Dank für die anschaulichen Mitteilungen zu Pfarrer und Gemeinde! Nur nicht den Mut verlieren! Es handelt sich ja wohl um eine, ganz besondere Doppelaufgabe. Das Pfingstwunder der Mission und christlichen Beständigkeit erhellt Vancouver, auch in den kleineren Winkeln, wie es auf der ganzen Welt geschieht, von größeren Erlebnissen bis zum kleineren Salz. Weiterhin gibt es die Möglichkeit, Deutsche "heimatlich" zu betreuen in einer Weise, die sie verstehen, und ohne völlige Verleugnung Deutschlands, wiewohl es kritisierbar geblieben ist. Diese Chance sollte als solche auch deutlicher gemacht werden. Über bessere, auch säkulare Finanzierungen müsste man nachdenken. Vielleicht, dass sich Tätige in gewisser Weise zusammentun, um auch einen gemeinsamen Gewinn zu erzielen, etwa im Sinne eines Affiliate-Systems (verschiedene Könner und Weniger-Könner ziehen am selben Strang, sodass etwas für gemeindliche Arbeiten über ist), im Sinne des Apostel Paulus.

Viele Grüße, gute Wünsche und Gottes Segen aus Berlin!

Dipl.-Phil Thierack