Mama ist meistens besser als Heim. Trotzdem können Profis an vernachlässigten Kindern viel bewirken. Andere Menschen aber auch

Tim Wegner
15.12.2011

chrismon: „Du bist ja gar nicht meine Mutter. Du tust das nur für Geld!“ Wie geht eine Heimerzieherin mit diesen Vorwürfen um?

Kuphal: Im ersten Moment beleidigt und gekränkt. Aber wenn sie gut ist, wird sie sagen: Ja, es stimmt, ich werde für diesen Job hier bezahlt. Ich liebe dich nicht wie meine eigene Tochter, die zu Hause auf mich wartet. Aber solange ich hier bin, bin ich ganz für dich da, und ich werde das Allerbeste geben. Klingt grausam. Aber die Wahrheit ist jungen Menschen zumutbar.

Und wenn eine Erzieherin ein Kind doch mal mit nach Hause nimmt?

Mal mit nach Hause nehmen ist kein Problem, es regelmäßig zu tun, gilt als Kunstfehler. Man gaukelt dem Kind etwas vor, erzeugt Eifersucht bei den anderen Kindern und macht auch den anderen Erzieherinnen das Leben schwer.

Wie geht es denn heute in Kinderheimen zu?

Das Bild, das viele noch von Kinderheimen im Kopf haben, ist längst überholt, an die Stelle der großen Anstalten sind kleine familienähnliche Wohngruppen getreten. Heimerziehung heißt heute lediglich, dass Kinder außerhalb ihrer Familie über Tag und über Nacht betreut werden. Wie dies geschieht, kann höchst unterschiedlich sein.

Wie war das früher?

Bis in die 60er Jahre waren Kinderheime eher geschlossene Anstalten mit dem Ziel der Disziplinierung. Dann gab es in den 1970er Jahren die große Heimkritik, und heute erst kommt alles ans Licht, was damals an Missbrauch, auch sexuellem Missbrauch, stattgefunden hat. Heute gibt es vor der Herausnahme eines Kindes aus der Familie eine ganze Skala anderer Hilfen mit dem Ziel, die Erziehungsfähigkeit der Familie zu fördern. Wenn ein Kind heute in ein Heim kommt, dann als letzte Möglichkeit, dann wurden in der Regel schon andere Hilfen ausprobiert.

Also sinkt die Zahl der Heimkinder?

Nein, sie steigt eher noch. Weil in dieser Welt und in dieser Gesellschaft mehr Familien ihren Erziehungsauftrag nicht mehr erfüllen können. Und weil nach den Skandalen der letzten Jahre zudem die Wachsamkeit gegenüber der Gefährdung von Kindern zugenommen hat.

Und das hat Folgen für die Jugendhilfe insgesamt?

Ja, und wir merken inzwischen, welch dramatische Auswirkungen damit verbunden sind. Mehr und mehr der Ressourcen gingen viel zu lange in die sicherlich notwendigen, aber späten Hilfen, während die frühen Hilfen vernachlässigt wurden. Weil scheinbar noch nichts Schlimmes passiert war. Aber auf den Anfang kommt es an! Natürlich, wenn es brennt, muss die Feuerwehr kommen, aber man muss immer auch auf den Brandschutz achten. Wenn heute eine Nachbarin beim Jugendamt anruft und berichtet, dass die junge Mutter nebenan ihr Baby lieblos behandelt, darf die Antwort nicht sein, dass man sich nicht darum kümmern könne, solange kein Fall von Kindesmisshandlung vorliegt. Denn wir wissen heute: Das erste halbe Jahr nach der Geburt ist entscheidend, damit ein Kind eine stabile Bindung aufbaut.

Was heißt das?

Man weiß heute, dass Kinder, die als Säugling keine stabile Bindung an eine Bezugsperson entwickelt haben, leicht zu irritieren und auf der Suche sind und im schlimmsten Falle so geschädigt, dass man von Hospitalismus spricht. Sicher gebundene Kinder sind hingegen starke Kinder, die einiges wegstecken können. Ein Kleinkind muss auch die Erfahrung machen: Wenn ich lache, lacht meine Mutter. Wenn ich schreie, kümmert sich jemand um mich. Wir nennen das die Grunderfahrung der „Selbstwirksamkeit“.

Also: in jede gefährdete Familie eine Sozialarbeiterin? Eins-zu-eins-Betreuung? Aber das wird ja noch teurer...

Ein Heimplatz kostet heute an die 4000 Euro im Monat. Das Geld wird gezahlt, weil es gezahlt werden muss. Während die frühen Hilfen als Luxus bewertet werden und im Haushalt der Behörden gern als sogenannte „Kann-Leistungen“ gestrichen werden. Gegenüber den Kosten für die Heimerziehung sind diese Ausgaben aber verschwindend gering. Natürlich ist es heute nicht möglich, auf Anhieb so viel Geld frei zu machen, dass die Jugendhilfe so etwas wie eine „präventive Wende“ hinkriegt, aber wir müssen schon aus Haushaltsgründen die vorbeugenden, frühen Hilfen ausbauen, damit mittelfristig die teure Heimerziehung zurück­gefahren werden kann. 

Alles Aufgabe der staatlichen Jugendhilfe?

Alle Eltern lieben zunächst ihre Kinder. Die größte Aufgabe der öffentlichen Jugendhilfe ist, zu helfen, dass diese Liebe nicht in den Widrigkeiten ihres Lebens vergeht. Aber auch andere Menschen können helfen. Kinder können selbst unter den widrigsten Bedingungen stark, widerstandskräftig und lebenstüchtig werden – man weiß noch nicht genau, welche allgemeinen Faktoren über den Einzelfall hinaus dabei eine Rolle spielen. Da wird noch einiges zu forschen sein. Bekannt ist aber, dass das Vorhandensein schon einer einzigen stabilen Bezugsperson im Leben eines Kindes eine Menge, vielleicht Entscheidendes ausmachen kann. Das kann ein Mensch aus der Verwandtschaft, der Nachbarschaft oder eine Lehrperson sein. Oder ein Pate, der sich kümmert. Aus der Sicht des Kindes ist die Hauptsache: Es ist jemand da, dem ich nicht gleichgültig bin, der an mich glaubt, der auf meine ­Fragen antwortet. Das ist wohl der „Engel mit dem bürgerlichen Namen“, von dem Mirijam Günter spricht. Viele von uns könnten einem Kind vermitteln: Ich bin nicht immer bei dir, aber ich bin immer da, wenn du mich brauchst!

Was kann man noch tun?

Menschen sind sehr schnell dabei, andere abzuwerten und auszugrenzen. Denn das ist auch eine Methode, Selbstbewusstsein zu erlangen: andere herabsetzen. In so einer Umgebung kann niemand gewinnen. Ich setze als Praktiker der Sozialarbeit entschieden auf das Prinzip der Gemeinwesenarbeit. Das Ziel ist, in einem überschaubaren Teil der Welt, im Wohngebiet, im Stadtteil, positive Beziehungen zu stiften, Menschen ihren Wert zu geben und Verantwortung zu übernehmen. Also Inklusion statt Exklusion. Erst in einem positiven Klima sind förderliche Beziehungen möglich. Da können Stadtteilzeitungen und -veranstaltungen, Impulse der Stadtteilkultur und kleine Alltagskontakte viel be­wirken. Erst dann, wenn Eltern und Kinder sich wertgeschätzt fühlen und sich selber wertschätzen, können sie überhaupt Hilfen von außen als wertvoll akzeptieren. Mit der Gemeinwesenarbeit gelingt es am ehesten, dass Eltern und Kinder, die der Hilfe des Jugendamtes am dringendsten bedürfen, diese auch tatsächlich annehmen – und zwar dann, wenn es noch nicht zu spät ist.

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