Kommt der Patient als Organspender in Frage? Auf der Intensivstation der Klinik "Son Dureta" in Palma de Mallorca prüfen Julio Velasco (links) und sein Team ein Röntgenbild.
Gunnar Knechtel
Ein Wettlauf mit der Zeit
Julio Velasco arbeitet auf der Intensivstation eines Krankenhauses auf Mallorca. Dort koordiniert der Arzt Organspenden, als Mitglied der spanischen Organisation für Transplantationen. Die funktioniert so gut wie keine andere auf der Welt: Niemand spendet mehr Organe als die Spanier
Foto: Privat
15.02.2011

Eigentlich war seine 24-Stunden-Schicht in der Universitätsklinik „Son Dureta“ in Palma de Mallorca vor zwei Stunden zu Ende. Dann aber kam die Nachricht von dem möglichen Organspender, nun läuft Julio Velasco durch den spärlich beleuchteten Gang der Intensivstation. 30 Zimmer, in denen Menschen um ihr Leben ringen. Wenn ihre Ärzte den Kampf verloren haben und den Hirntod diagnostizieren, dann erst ist der 54-Jährige gefragt: Vielleicht können die Organe der Toten anderen das Leben retten. Velasco koordiniert in der Universitätsklinik alle Organtransplantationen der balearischen Inseln.

„Kein medizinischer Eingriff erhöht die Lebenserwartung mehr als eine Transplantation“, sagt Velasco, graue Haare, wache Augen. Eine goldene Kette blitzt im ­Ausschnitt seines weißen Arbeitshemdes. „Wir haben einen Spender“, sagt er mit einem freundlichen Zwinkern in den Augen. Er setzt sich in seinem Büro an einen runden Tisch am Fenster. An den Wänden hängen Poster. „Du hast Leben im Überfluss“, steht neben dem Porträt eines jungen Mannes. Oder: „Die Augen hat sie vom Papa, die Haare von der Mama, die Niere ist gespendet.“ Darunter tanzt ein ­Mädchen in einem Ballettsaal. Wenn es um Transplantationen geht, um sein Thema, nimmt sich der Arzt Zeit. Er wird ruhig, spricht konzentriert und scheint das geschäftige Treiben auf der Station ganz zu vergessen.

Seine Kollegen auf der Unidad de Cuidados Intensivos (UCI) suchen gerade Empfänger für die Nieren, die Leber und das Herz eines vor rund drei Stunden verstorbenen Mannes. Sie gehören zur fünfköpfigen Gruppe, die Oberarzt Velasco leitet. Das Team ist Teil der spanischen „Organización Nacional de Trasplantes“ (ONT), die seit Ende der 80er Jahre landesweit Spenderorgane vermittelt. Anders als zum Beispiel Deutschland, das mit Eurotransplant zusammenarbeitet, gehört Spanien keinem euro­päischen Organspendeverbund an.

Deutsche Spender in Spanien

Für ihre effiziente Vermittlungsarbeit wurde die ONT im Herbst 2010 mit dem renommierten Prinz-von-Asturien-Preis ausgezeichnet. Nirgendwo in Europa können mehr kranke Menschen auf ein rettendes Organ hoffen als in Spanien. Eine der erfolgreichsten Regionen des Landes sind die balearischen Inseln: 100 Herzen, 355 Lebern, 59 Lungen, 242 Nieren und 38 Bauchspeicheldrüsen – insgesamt rund 800 Organe hat Velasco in den vergangenen 20 Jahren zur Spende gemeldet. Die Organe von Toten, die anderen zu leben halfen. 35 Spender pro eine Million Einwohner hatte die Region 2009, etwas mehr als der landesweite Durchschnitt. Nicht alle Spender waren Spanier. Auf Mallorca leben und sterben viele Ausländer, vor allem Deutsche – 2009 waren sie knapp acht Prozent aller Spender. Urlauber oder Teilzeitresidenten, „die vielleicht zu Hause nicht spenden würden“, sagt der Arzt.

In Deutschland werden insgesamt weitaus weniger Organe gespendet: 2009 waren es nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) 15 Menschen pro eine Million Einwohner. Damit Kranke, die auf ein Spenderorgan warten, nicht massenhaft nach Spanien ziehen, müssen alle Empfänger von gespendeten Organen ihren ersten Wohnsitz in Spanien haben. Vielleicht sorgt nicht nur die bessere Organisation in spanischen Krankenhäusern für die hohe Zahl an Spenderorganen, vermutet Velasco. In Spanien dürfen allen Verstorbenen Organe und Gewebe entnommen werden, es sei denn, sie widersprechen dem zu Lebzeiten schriftlich. Das tun die wenigsten. In Deutschland dagegen kommen zunächst nur Spender mit Organspendeausweis in Betracht.

Dennoch: Im Effekt gleichen sich beide Regelungen. In Deutschland fragen Ärzte die Angehörigen nach dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen, wenn kein Spenderausweis vorliegt. Auch in Spanien bemühen sich Velasco und die anderen Koordinatoren für Organtransplantation um die Zustimmung der Familien. Sie vertrauen darauf, dass Menschen auch in Momenten tiefer Trauer das Leid anderer fühlen und einer Spende zustimmen. „Das hat uns enormes Prestige gebracht“, sagt Velasco.

Gespräche über das Organspenden

Spanien hat es geschafft, Geben und Nehmen so aufeinander abzustimmen, dass „kein Organ verloren geht“, wie Velasco das nennt. 4028 Transplantationen hat die ONT im Jahr 2009 ermöglicht, dank eines Protokolls, das kurz nach einer Todesdiagnose idealerweise binnen 24 Stunden abläuft. Bis zu 100 Beteiligte arbeiten dabei über mehrere Hundert Kilometer hinweg zusammen. Erster Schritt: Ein Arzt stellt den Hirntod seines Patienten fest. Solange Herz und Lungen noch funktionieren, taugen innere Organe zur sogenannten Leichenspende, denn nur dann werden sie weiterhin mit Blut und Sauerstoff versorgt.

Zweiter Schritt: Ein Koordinator wie Julio Velasco fragt die Angehörigen nach ihrem Einverständnis. Geben sie es, fängt ­Velascos Handy an zu „brennen“, wie er sagt. In zwei oder drei Stunden gehen rund 30 Anrufe ein und aus. Ärzten in allen 17 spanischen Regionen sind dem Netzwerk der ONT angeschlossen.

Der Verbund funktioniert allein mit der Überzeugungskraft der Mitarbeiter. Diese sensibilisieren Kollegen in ihrer Region, bei Seminaren oder im direkten Gespräch für das Thema Organspende. Geld fließt dabei nicht: Weder Angehörige bekommen etwas noch die Mitarbeiter der ONT. Auf keinen Fall darf auch nur der leisteste Verdacht auf Organhandel aufkommen. Ärzte wie ­Velasco sind es also, die seit 20 Jahren ein Bewusstsein dafür schaffen, dass hirntote Patienten Leben retten können: bei den Angehörigen, in der Bevölkerung, vor allem aber beim Personal aller Kliniken der Balearen. Nicht nur auf der Intensivstation sterben Menschen, auch in der Chirurgie, in der Pädiatrie, bei den Notfallmedizinern. In Son Dureta hängt auf allen Stationen Velascos Handynummer aus. „Nur wenn die Kollegen bei einem Todesfall an mich denken, haben wir einen Spender“, sagt der Arzt.

Bis zu sieben Leben können gerettet werden

Schritt drei im Spendenprotokoll: Haben die Angehörigen eingewilligt, ruft Velasco in der Madrider Zentrale an. Dort gehen Kollegen die Warteliste aller potenziellen Empfänger im Land durch: Zu welchem Kranken passen die Organe des Spenders aus Palma? Dazu sind Körpergröße, Gewicht, Leibesumfang und Lebensalter des Toten ausschlaggebend sowie der Allgemein­zustand der Organe. Um all diese Daten am Handy durchgeben zu können, muss Velasco viele Kollegen in seinem Krankenhaus schnell um Unterstützung bitten: Radiologen, Kardiologen, ­Chirurgen, Mikrobiologen, Immunologen, Laboranten...

Was nun kommt, folgt dem gleichen Muster wie in Deutschland: Der Körper des Verstorbenen wird gründlich untersucht, bevor er freigegeben wird. Dreierlei kann gegen eine Organspende sprechen: eine Krebserkrankung, chronische oder akute Entzündungen sowie die Zugehörigkeit des Toten zu einer Risikogruppe für ansteckende Krankheiten wie Aids oder Hepatitis. Da diese Krankheiten nicht in jedem Stadium erkannt werden, muss Velasco alle Menschen, deren Erscheinungsbild oder biografische Daten auf einen ungesunden Lebenswandel hinweisen, ablehnen.

Ist der Körper des Verstorbenen in guter Verfassung, wird er zunächst künstlich am Leben gehalten. Es ist kompliziert und teuer, einen Menschen, dessen Hirnströme versiegt sind, stabil zu halten. Doch der Aufwand lohnt sich. Ein Toter kann bis zu sieben Leben erhalten helfen: Leber, Nieren, Herz, Lunge, Bauchspeicheldrüse, Hornhaut, Sehnen, Haut und Knochen werden in Spanien routinemäßig transplantiert.

Die Angehörigen brauchen Trost, der Arzt Organe

Sobald schließlich in Madrid auf der Warteliste die passenden Patienten gefunden sind, werden Spezialisten und Empfänger informiert. Die Ärzte fliegen nach Mallorca und lassen sich mit dem Krankenwagen nach Son Dureta fahren. Velascos Herausforderung besteht dann darin, dass Kardiologen, Nephrologen oder Internisten aus Madrid, Barcelona oder Córdoba zeitgleich landen und nacheinander die Organe für ihre Patienten entnehmen ­können. Danach reist jedes Team so schnell wie möglich zurück – die Organe fliegen im Cockpit. Währenddessen werden die Empfänger in den Krankenhäusern für die Operation vorbereitet. Die Stoppuhr läuft nun ein zweites Mal: Eine Niere ohne Blutzufuhr hält sich rund vier Stunden, andere Organe etwas länger.

Wenn die Ärzte mit den Kühlboxen abreisen, bekommt Velasco eine Gänsehaut, sagt er – auch nach 20 Jahren. Das Handy bleibt still, sein Puls beruhigt sich. Velasco nimmt den Aufzug von der Chirurgie hinauf zur Intensivstation im siebten Stock der Klinik. Er geht durch die Schwingtür zurück in sein Büro und ist froh, auch diesmal die höchste Hürde in diesem Sprint genommen zu haben: das Angehörigengespräch.

Es findet unter großem Druck statt, zeitlich und emotional. ­Velasco spricht im Durchschnitt etwa dreimal im Monat mit Angehörigen, immer wenn bei einem Patienten der Hirntod diagnostiziert wird. Er muss gegensätzliche Bedürfnisse versöhnen: Die Angehörigen brauchen Trost, er braucht Organe. Sie müssen ihre Trauer überwinden, er seine Müdigkeit. Ist der Verstorbene einer Hirnblutung erlegen, wie in den meisten Fällen, leidet der Körper unter Stresssymptomen. Jede Minute zählt. Velasco weiß das, doch er muss Ruhe und Mitgefühl vermitteln, inmitten einer 24-Stunden-Schicht oder auch nach ihrem Ende.

Velasco glaubt fest an das Gute im Menschen

„Zunächst muss ich Raum für die Trauer schaffen“, sagt er, „danach lenke ich das Gespräch auf die Spende.“ Das tut er erst, wenn die Angehörigen die Todesnachricht erhalten haben und beginnen, sie zu verarbeiten. Er bleibt in der Nähe. „Was nun?“, fragen die meisten Patienten irgendwann zwischen Trauer, Verzweiflung oder Wut, zwischen Tränen, Schluchzen oder stummer Fassungslosigkeit. Dann setzt er sich zu ihnen und sagt: „Ihr Angehöriger kann Leben retten.“ Oder: „Organspende ist eine der würdevollsten Handlungen, zu denen wir Menschen fähig sind.“

Velasco spricht diese Worte in seinem Büro aus, an einem runden Tisch am Fenster, zwischen Plakaten, auf denen junge Männer oder Mädchen im Ballettsaal zu sehen sind. Dort sitzen die Hinterbliebenen. Velasco weiß: „Der erste Impuls sagt ihnen: Mein Vater oder meine Mutter soll unversehrt bleiben.“ Doch dann zieht Velasco die Rollläden in seinem Büro hoch und öffnet die Fenster, verschwindet leise, kommt nach einigen Minuten wieder zurück, fragt die Trauernden mit seiner warmen Stimme, ob sie etwas brauchen, bietet ihnen seine weiche Hand zum Trost, hört ihnen zu.

Er glaubt fest an das Gute im Menschen. Diese Überzeugung strahlt er aus. Mit ihr gibt er den Verwandten Sicherheit und signalisiert ihnen: Ihr schafft es, auch ihr seid zu Selbstlosigkeit fähig. Im Jahr 2009 haben sich auf der Intensivstation von Son Dureta 32 von 37 Familien für die Empfänger entschieden. Für die Kranken, die irgendwo im Land vegetieren, mehrmals die ­Woche zur Dialyse müssen, bettlägerig sind, täglich ihren Tod er­warten, kurzatmig vor sich hindösen, auf einer Warteliste stehen. Sie sind die Gewinner dieser inneren Kämpfe in Velascos Büro, die der Arzt mit wenig Worten und viel Ruhe begleitet.

War der Verstorbene Muslim, stammte er aus Asien oder gehörte er der Roma-Ethnie an, wird es keine Organspende geben. Angehörige dieser Gruppen lehnen sie grundsätzlich ab. Sie halten das für respektlos dem Toten gegenüber oder bezweifeln die Gültigkeit der Diagnose Hirntod. Für die Gitanos, wie Roma in Spanien heißen, ist ein Mensch erst tot, wenn das Herz aufhört zu schlagen. Manche Angehörige greifen Velasco körperlich an, beleidigen ihn, wenn er sie um die Organe bittet. Er lässt sie dann sofort in Ruhe. In allen anderen Fällen nimmt sich der Arzt Zeit. Er spricht mit den Hinterbliebenen nicht vom Sterben, sondern vom Leben. Er bittet sie, ihn auf den Balkon zu begleiten und dort den Blick zu heben. Vor ihnen liegt das Mittelmeer, über ihnen der blaue Himmel. Sie sehen Schiffe und Möwen in der Bucht von Palma und sie riechen die Kiefern des Waldes neben der Klinik. Sie spüren mit ihren Sinnen, wie das Leben trotz allem dennoch weitergeht.

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