Illustration: Marco Wagner
Die schwäbische Pazifistin
Anna Haag: Die schwäbische Frauenpolitikerin und Pazifistin setzte sich als Erste für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ein
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
11.07.2011

„Die Frauen müssen es machen! Wenn es die deutschen Frauen nicht machen, sehe ich keine Chance für Deutschland.“ In der ersten Broschüre, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland ­gedruckt wurde, stehen diese Sätze. Sie handelt vom politischen und sozialen Neuanfang. Geschrieben hat diese Broschüre Anna Haag, Schrift­stellerin, engagierter Kopf der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, Gelegenheitsjournalistin, Lehrersgattin. Sie zitiert hier die Äußerung eines amerikanischen Besatzungsoffiziers, um sie zum Motto ihrer Streitschrift zu machen.

In der zwölfseitigen programmatischen Schrift mit dem Titel „...und wir Frauen?“ findet sich eine Art Selbstverpflichtung der Autorin: „‚Nie wieder Krieg!‘ Wir werden die äußerste Sorgfalt anwenden, um unsere Kinder in diesem Sinn zu erziehen!“ Wachsamkeit ist für sie die heraus­ragende politische Tugend. Selbstkritisch reflektiert sie die Ursachen, warum die Frauen ihren „Urinstinkt“ verloren hätten, dem Tod zu entrinnen: Nazipropaganda, die Todesangst im Krieg und die Angst vor der Gestapo.

Sie schrieb sich in die Verfassungsgeschichte Deutschlands ein

Wer war diese Frau, die zwar nie redegewandt, aber ihrer moralischen Ziele ­sicher, sehr entscheidungsfreudig und geistig unabhängig war? Als Lehrerstochter in der Nähe von Backnang geboren, als Jugendliche in Dettingen an der Erms zu Hause, wurde sie weitgehend von ihrem Vater unterrichtet, erhielt keine höhere Schulbildung. So verlegte sie sich aufs Schreiben, heiratete einen Lehrer, lebte mit ihm in Bukarest und in Nürtingen, seit 1927 in Stuttgart. Der SPD war sie bereits kurz nach 1919 beigetreten.

Obwohl sie in ihrer eigenen Partei als ausgemachte Individualistin galt, wurde sie 1946, vor der Konstituierung der Verfassungsgebenden Landesversammlung in Stuttgart gefragt, ob sie dort für die Sozialdemokraten Sitz und Stimme wahrnehmen wolle. Sie zog in die Landesversammlung ein, später in den Landtag, ergriff dort aber selten das Wort. Und wenn, dann eilte sie meist empört nach vorn, und schon allein dies brachte das Bärtchen des Parlamentspräsidenten zum Zittern. Das ist kein Wunder. In die Geschichte des deutschen Verfassungsrechts schrieb sich die Schwäbin im Fe­bruar 1948 dadurch ein, dass sie als Erste das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung in die parlamentarischen Beratungen einbrachte: in die Verfassung des Landes Württemberg-Baden. Von dort aus fand es ein Jahr später leicht modifiziert Eingang in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Als sie den Gesetzentwurf in Stuttgart einbrachte – für sie eine völlig naheliegende Rechtsnorm –, erntete sie prompt mitleidiges Lächeln und Reaktionen, die alle auf den einen Punkt hinausliefen: Das ist unvernünftig.

"Was ist aus mir geworden? Ich bin verschlossen, misstrauisch, verlogen geworden"

Was Vernunft, was Unvernunft ist, darüber hatte sich Anna Haag während des Krieges genug Gedanken gemacht. Ihre intimsten Gedanken vertraute sie einem Kriegstagebuch an, das sie im Kohlenkeller ihres Hauses versteckt hielt. Sie diagnostiziert nicht nur einen „Massen­wahnsinn des deutschen Volkes“ (24. Januar 41), sondern beobachtet auch sich selbst äußert kritisch: „Ich war früher ein freundlicher Mensch, hilfsbereit, den Menschen zugetan, heiter, offen. Was ist aus mir geworden? Verschlossen, misstrauisch, ver­logen, hasserfüllt, eigennützig... Um mein Leben vollends durch die ‚große‘ Zeit ­hindurch zu retten, muss ich noch verschlossener, noch misstrauischer, noch ­verlogener, soch selbstsüchtiger werden“ (19. Juni 1943). In ihrem Haus in Feuerbach hatte sie Jahre zuvor auf dem Dachboden „Massen von Flugblättern der Frauenliga“ liegen, nach dem Ermächtigungsgesetz 1933 verbrannte die Familie „ganze Stapel davon mit dem Aufdruck ‚Nie wieder Krieg‘... an einem einsamen Hang“ in der Nähe.

Ob die Frauen entschlossener als die Männer der Naziideologie widerstanden haben, daran zweifelte Anna Haag. Nach dem Krieg schrieb die Feministin an Amerikas First Lady Eleanor Roosevelt mit der Bitte, sich für die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen einzusetzen, soweit sie nicht Nazis gewesen waren. Die antwortete ihr nicht, bezichtigte sie aber öffentlich der Naivität. Ein Vorwurf, der Anna Haag nur zu vertraut war.

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„Dank für den Beitrag über Anna Haag! Ihr Engagement für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung war im besten Wortsinn äußerst verdienstvoll. Dieses Recht wurde nicht nur in weitere Landesverfassungen aufgenommen, sondern 1949 auch in das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Der Parlamentarische Rat nahm es (im Hauptausschuss am 18.01.1949) mit großer Mehrheit an, weil er damit eine „große pädagogische Wirkung“ verband, die einem künftigen „Massenschlaf des Gewissens“ (F. Eberhard, SPD) entgegenwirken sollte. Alte und neue Militärstrategen haben genau das jahrzehntelang zu verhindern versucht. Bis heute erscheint das staatlich-politische Primat des Militärischen ungebrochen - trotz Aussetzens der Wehrpflicht. Somit bleibt gesellschaftlich - gerade auch von den Kirchen - darauf hinzuwirken, dass die vom Verfassungsgeber intendierte Wirkung dieses Grund- und Menschenrechts nicht nur erhalten bleibt, sondern durch die Förderung freiwilliger FRIEDENSdienste positiv aufgenommen wird. Den Vorrang des Zivilen durchzusetzen und - statt militärischen Gewalteinsatzes - zivile Konfliktbearbeitung zu etablieren, bedarf es noch ganz vieler Anna Haags und männlicher Pendants.“
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Günter Knebel (nicht überprüft) schrieb am 3. August 2011 um 13:14: "...dass die vom Verfassungsgeber intendierte Wirkung dieses Grund- und Menschenrechts nicht nur erhalten bleibt..." ------------------------- Der Verfassungsgeber hatte zunächst mal ganz andere Sorgen. Es galt, die staatlichen, also von vornherein gewaltmäßigen, Grundlagen für den neuen Weststaat aufzuschreiben. Das Vorgängerregime hatte das schöne Deutschland durch den verlorenen Krieg gründlich vergeigt. Das anständige deutsche Volk verlor darüber keineswegs seinen Bock auf Herrschaft, sondern wünschte sich im Gegenteil neue, bessere Herren herbei. Deshalb musste eine deutliche Abgrenzung zum faschistischen Staat her. ------------------------- Im Rahmen dieser Überlegungen kam der Einfall mit dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung sehr gelegen. Sowas hatte es beim Adolf nicht gegeben. Bevor jemand darüber in unpassende Begeisterung verfällt, sollte er Folgendes bedenken. Wenn niemand gegen sein Gewissen zum Dienst mit der Waffe gezwungen werden darf, dann hatte der Verfassungsgeber offenbar vor, sein männliches Menschenmaterial im Regelfall sehr wohl zum Barras zu zwingen. Sonst macht dieses schöne Sonderrecht für ein paar Gestalten mit speziellem Gewissen - also Kenntnis der Sprüche, die vor den Anerkennungskommissionen abzusondern sind - keinen Sinn. Das Recht auf KDV ist also nicht der erste Schritt zum Frieden, sondern ein schlauer staatlicher Schachzug für zukünftige Kriege kurz nachdem man den letzten mit Pauken und Trompeten verloren hatte. ------------------------- Zitat: "weil er damit eine "große pädagogische Wirkung" verband, die einem künftigen "Massenschlaf des Gewissens" (F. Eberhard, SPD) entgegenwirken sollte." ------------------------- Das ist doch auch perfekt gelungen. Das Gewissen der lieben Zeitgenossen schläft leider überhaupt nicht. Es ist hellwach. Mit Hilfe dieses Gewissens werden doch die modernen Kriege dem Volk erfolgreich schmackhaft gemacht. Ich kenne keinen einzigen modernen Krieg, der von den Kriegsherren begründet worden wäre mit dem Aufruf, jetzt mal ordentlich gewissenlos zu sein. Ganz im Gegenteil. Kriege werden immer begründet unter Berufung auf den Schutz der höchsten Werte, die jedem anständigen Gewissen ein Anliegen sein müssen: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Friede... ------------------------- Das ist übrigens der zentrale Beitrag des Glaubens zum Krieg: Die Pflege eines Wertehimmels, für den es sich dann wirklich lohnt, das Gemetzel zu starten, Durch die systematische Interpretation der Wirklichkeit als mehr oder weniger gelungene Verwirklichung von Idealen wird der unabdingbare Boden bereitet für das gängige "Krieg ist nicht schön, muss aber sein." Dagegen war die tatsächliche oder nur behauptete ehemalige Praxis, Waffen zu segnen, matt. Das war nur ein symbolischer Akt. Die Feuerkraft eines gesegneten Kriegsschiffes ist nicht größer als die eines ungesegneten. Die Bereitschaft eines moralischen Menschen, dem Krieg zuzustimmen, ist aber im Regelfall höher als die eines Gewissensverächters.