Wie er sich sein Leben wünscht, hat Sagi aufgemalt. Ein Clown schwebt da über der Stadt. Mit kurzen Hosen und breitem Grinsen, rundherum bunte Luftschlangen. Von links kommen Raketen, fliegen auf Häuser zu, auf Kinder, einen Fußballplatz. "Aber am Clown kommen sie nicht vorbei", sagt Sagi. "Immer wenn der Clown lacht, müssen die Kassamraketen umdrehen."
Wenn der Clown lacht, müssen die Kassamraketen umdrehen.
Im wirklichen Leben hilft Sagi kein Clown. Da hilft nur Stahlbeton, etwa 20 Zentimeter. "Zeva Adom, Zeva Adom" - Farbe Rot. Wenn der Alarm durch die Straßen schallt, bleiben Sagi genau 15 Sekunden, um sich zu verstecken. "Am besten ist ein Bunker", sagt Sagi. Wenn kein Bunker da ist, ein Haus: "Weg von den Fenstern und zu der Wand, die Richtung Osten zeigt." Routiniert, fast gelangweilt sagt er das, so, wie man eine Bedienungsanleitung vorlesen würde. Auf offenem Feld müsse er sich flach auf den Boden legen, die Hände über den Kopf. Sagi ist sieben Jahre alt.
"Zeva Adom", so heißt hier auch ein Lied. Im Kindergarten singen es die Erzieherinnen mit den Kindern bei Alarm, um sie zu beschäftigen:
"Schnell, schnell, schnell zu einem sicheren Platz" (Kinder krabbeln unter die Tische), "Schnell, schnell, schnell, weil es gefährlich ist" (Kinn auf die Brust, Arme schützend über den Kopf).
Sagi wohnt am Ortsrand von Sderot, einer israelischen Kleinstadt mit 20000 Einwohnern an der Grenze zum Gazastreifen. Aus dem Fenster seines Zimmers sieht er arabische Häuser, abends die Lichter von Beit Hanoun, Luftlinie etwa drei Kilometer. "Da, wo die Kassams herkommen", nennt es Sagi. Seit seiner Geburt sind mehr als 7000 Kassamraketen und Mörsergranaten auf Sderot und die umliegenden Ortschaften eingeschlagen. Natürlich weiß er von der Waffenruhe mit der Hamas seit Ende Juni. Trotzdem gibt es immer wieder Alarm, trotzdem fallen Raketen. In schlimmen Zeiten waren es 50 am Tag. 50 Mal in den Bunker rennen. 50 Mal auf den Einschlag warten.
"Mein Herz pocht - bum, bum, bum" (Arme gekreuzt, die Fäuste klopfen bei jedem "bum" auf die Brust).
Rafael wohnt am anderen Ende der Stadt. Ein schmächtiges Kerlchen, fünf Jahre alt, blitzende, nervöse Augen. "Extreme" steht auf seinem grünen T-Shirt. Wenn er erzählt, dann nur in Brocken. Von seinem zweiten Kindergartentag etwa, als sie von Soldaten begleitet wurden. "So richtig. Mit Uniform und Armeefunk und Gewehr", sagt Rafael. Ein Soldat nimmt ihn unter seine Fittiche. Und Rafael darf anfassen, ausprobieren, fragen. Die Kinder, meint die Mutter, sollten sich einfach mal sicher fühlen. Wissen, dass jemand auf sie aufpasst. Auf einmal: "Zeva Adom, Zeva Adom." Farbe Rot. Alarm. 15 Sekunden. Alle rennen, drängeln, fliehen. Kinder, Soldaten. Ein Bunker. Ein paar Sekunden. Zischen. Eine Explosion, direkt daneben. Schreien, kreischen, weinen. Rafael bleibt ganz still, wie versteinert. Als er aufblickt, steht der Soldat neben ihm. Der Soldat heult, hat ein Telefon in der Hand: "Mama! Ich weiß nicht, wo ich bin. Es ist so gefährlich. Wohin haben sie mich geschickt?" Rafael bleibt eine viertel Stunde im Schock. Dann erst macht er sich in die Hose, dann erst schreit und weint er.
Der Körper ist ständig auf Anschlag, im Überlebensmodus
"Die Kinder hier atmen nicht mehr tief", sagt Dalia Yusef, Leiterin des Traumazentrums "Hosen". "Sie warten immer auf den nächsten Angriff. Ihr Körper ist ständig auf Anschlag, im Überlebensmodus, kann sich nicht mehr erholen." Manchmal könne schon eine Autotür, die zugeschlagen wird, Todesangst auslösen. Schulkinder werden zu Bett- und Tagnässern, die Zahl der Asthmafälle hat zugenommen, genauso wie Blutzucker und Haarausfall. Yusef schickt reihenweise Kinder zur Sportgymnastik. Nur noch wenige Eltern lassen ihre Kinder draußen spielen. Motorik und Muskeln seien unterentwickelt. "Die sind einfach schlaff." Zwischen 75 und 94 Prozent der Kinder und Jugendlichen von Sderot zeigen Symptome von posttraumatischen Belastungsstörungen. Eigentlich könne von "post" noch überhaupt keine Rede sein, sagt Yusef. "Macht eine Therapie überhaupt Sinn, wenn ich während einer einzigen Sitzung dreimal unterbrechen und in den Bunker gehen muss?"
"Wir schütteln unseren Körper, rüttel, rüttel, rüttel" (die Kinder zappeln mit dem ganzen Körper).
Mike spielt am liebsten Fußball. Er ist sieben Jahre alt, goldener Ohrring, blonde Haarsträhnchen, Igelfrisur. Zwischen Holzpfosten und Israelflaggen hat er ein kleines Feld abgesteckt, zu Hause auf der Terrasse. Klar würde er gern rausgehen. "Ich spiele ja im Verein." Aber seine Mutter lässt ihn nicht mehr hingehen.
In der Küche läuft das Radio. FM 104,0, ein ganz normaler Musiksender. Außer bei Alarm: Dann wird die Popmusik unterbrochen und "Zeva Adom" übertragen. Ab 21 Uhr sendet 104,0 Stille. Mikes Mutter lässt den Sender rund um die Uhr laufen. Sie hat Angst, "Farbe Rot" nicht zu hören, vor allem nachts.
"Sie fällt runter - kawumm" (die Kinder klatschen in die Hände).
Wer hat jetzt wieder seine Beine verloren?"
Am 15. November 2006 trifft eine Rakete Maor Peretz, 24 Jahre alt, Sagis Cousin. Er wollte einer Frau helfen, die beim Alarm nicht schnell genug von der Straße kam. Die Frau stirbt, Raketensplitter durchsieben Maors Beine. Beide Beine müssen amputiert werden. "Seitdem", erzählt Sagis Mutter, "stellt mein Sohn bei jedem Alarm immer dieselbe Frage: Wer hat jetzt wieder seine Beine verloren?"
Kassamland nennen sie das israelische Gebiet rund um den Gazastreifen, das in Reichweite der Raketen liegt. Und Sderot ist seine Hauptstadt. Eine Stadt, die seit mehr als sieben Jahren für die Misserfolge im palästinensisch-israelischen Friedensdialog büßen muss. Eine Stadt mit merkwürdigen, oft sehr persönlichen Statistiken: Mittwoch etwa ist der Wochentag mit den meisten Angriffen, das Bad das Zimmer, das am häufigsten getroffen wird. Die Mutter von Sagi und Omer duscht ihre Kinder nur noch einzeln. Damit sie bei Alarm das Kind rechtzeitig aus dem ersten Stock runter in den Bunker bringen kann. "Ein Bad zu nehmen", sagt sie, "davon träumen wir hier."
Die Menschen in Sderot haben die Raketen in ihren Alltag integriert. Sie stellen sich Kassams in den Vorgarten, bunt bemalt, als Aschenbecher oder Blumentopf. Auf Autos kleben Sticker: "Vorsicht Kassam", dreieckig, so wie bei uns "Baby an Bord". Die Menschen sind misstrauisch geworden gegenüber Normalität.
Hier hat eine Kassam ein Straßenschild zerstört - aber könnten es nicht auch übermütige Jugendliche gewesen sein? Dort hat eine andere den Asphalt aufgerissen -oder doch nur ein ganz normaler Straßenschaden? Ein Grundschulkind auf den Armen der Mutter: Woanders denkt man bei solchen Bildern an Kreuzschmerzen, hier an Bindungsstörung. Und diese Stille, die menschenleeren Straßen: Angst vor dem nächsten Angriff? Oder meiden die Menschen einfach nur die Hitze?
"Wir holen ganz tief Luft" (die Kinder atmen hörbar ein).
Wer wissen will, wie es um eine Stadt steht, schaut auf ihre Neubauten. In Sderot sind das vor allem Bunker. Neben Spielplätzen und auf dem Gemüsemarkt, neben dem Fußballplatz, sogar auf einer Verkehrsinsel. Hastig zusammengestellte Betonelemente, etwa so groß wie Garagen, bunt bemalt wie Freizeitheime. Seit ein paar Monaten gibt es sogar kassamsichere Bushaltestellen. Hinter dem verwinkelten Eingang zieht sich ein breiter orangefarbener Strich über Wand und Boden: Erst dahinter ist man geschützt.
Ein kugelsicherer Kindergarten
Eines der neuesten Gebäude ist die Rappa-port-Kindertagesstätte: Dass es ein Kindergarten ist, bemerkt man erst gar nicht. Denn da ist kein Spielplatz, nicht mal Fenstermalfarbe, man hört kein Lachen oder Streiten. Stattdessen: viel Beton, massive Eisenplatten vor kugelsicheren Fenstern, ein giftgassicheres Belüftungssystem. Gespielt wird drinnen, abgeschottet von der Realität.
"Wir blasen alles raus" (Kinder atmen aus).
Das Haus, in dem Rafael zusammen mit seiner Mutter, der Schwester und Großmutter lebt, wirkt fast verlassen, zumindest eingemottet für mehr als die großen Ferien. Die Rollläden sind geschlossen, selbst in den Kinderzimmern ist alles verräumt, Plastikfolien über den Betten. "Wir leben nur noch im Wohnzimmer und im Bunker", sagt die Mutter. Ihr Bunker, das ist ein neun Quadratmeter großes Zimmer mit drei Betten und einem Fernseher. Sie haben es selbst umgebaut, die Wände verdoppelt, kugelsicheres Glas eingemauert, Stahlnetze sollen vor Druckwellen schützen. Die nächsten fünf Jahre werden sie dafür einen Kredit abbezahlen.
Neulich fragte Daria, Rafaels Schwester, warum sie nicht nach Netivot umzögen. Dort gäbe es kein Zeva Adom, keine Kassams. "Was soll ich einer Sechsjährigen sagen? Dass eine Hypothek auf dem Haus ist, das keiner haben will?"
Offiziell sind 15 Prozent der Einwohner aus Sderot weggezogen. Hilfsorganisationen sprechen von jedem Vierten. Rafaels Mutter sagt: "Jeder, der es sich irgendwie leisten kann."
"Wir lockern unsere Beine, schüttel, schüttel, schüttel" (die Kinder zappeln mit den Beinen).
Rafael und Daria dürfen nicht draußen spielen. Also sitzen sie im Wohnzimmer oder im Bunker, gucken fern und warten auf ein normales Leben. Ein Leben, das sie nie kennengelernt haben. "Früher", sagt die Mutter, "habe ich mir gewünscht, dass meine Kinder Lehrer, Arzt oder Rechtsanwalt werden. Heute wünsche ich mir nur noch, dass sie überleben."
Rafaels Lieblingsfernsehheld heißt Rubi Regev, eine Art israelischer Superman im Gymnastikanzug in den Landesfarben Weiß und Blau. "Rubi Regev wird dich retten aus jeder Gefahr", heißt es in der Titelmelodie. Klar wäre er gern wie Rubi, sagt Rafael. "Obwohl" - er zögert - "vielleicht auch nicht. Der hat immer das Gleiche an."
"Es ist, als ob du deine Kinder an die Front schickst. Aber sie sind keine Soldaten."
Manchmal spielen sie auch, Rafael und seine Schwester. "Magic world of building bricks" steht auf der gelben Kiste. Die Mutter nimmt einige der Plastikbausteine heraus, steckt sie zusammen, lässt sie in den Schoß sinken. Schon ein paar Mal hatten Rafael und Daria Lego-Kassams gebaut und damit gespielt. "Was soll ich machen? Ich kann sie doch nicht schimpfen, nicht dafür." Sie schaut auf den Boden. "Abends wenn sie schlafen, baue ich sie wieder auseinander." Kassams seien nun mal Alltag hier. "Das ist das, was sie täglich erleben, worüber sie sprechen." Kinder laden sich den Alarm als Klingelton auf ihr Handy. Beschimpfungen mit "Kassam" und "Zeva Adom" sind ganz normal. "Die rote Farbe soll dich holen." - "Ich wünsch' dir Zeva Adom."
Dann sagt die Mutter: "Es ist, als ob du deine Kinder an die Front schickst. Aber sie sind keine Soldaten."
"Wir können lachen. Es ist alles vorbei" (Handflächen bewegen sich gegenläufig auf und ab, klatschen in der Mitte). "Yeees" (Fäuste in die Luft gereckt).
Dieses Jahr feiert Israel das 60. Jubiläum seiner Staatsgründung. Auch Sderot soll feiern. Ein Dutzend Hüpfburgen sind aufgeblasen, Autoscooter, sogar Rodeo-Reiten gibt es. Richtung Mittelmeer hört man Helikopter knattern, die den Luftraum über dem Gazastreifen überwachen und zumindest heute für Ruhe sorgen sollen. Trotzdem sind nur wenige Kinder gekommen. Sagi und sein kleiner Bruder Omer sind mit ihrer Mutter nach Tel Aviv, Rafael und Daria sitzen zu Hause vor dem Fernseher, Mike kickt auf seiner Terrasse.
Ein Clown geht über die Festwiese. "Rami Salami" steht auf seinem Ringelshirt. Er zieht Grimassen, veräppelt Eltern, verteilt rosa Zuckerwatte an Kinder. Die Flügeltüren zur kassamsicheren Turnhalle sind zurückgeklappt.
Auf einmal taucht ein motorisierter Paraglider auf, fliegt dicht über den Hüpfburgen, winkt den Kindern, wirft Bonbons vom Himmel. Die israelische Flagge flattert im Schlepptau. Der Motor wird lauter. Der Paraglider fliegt höher und zündet eine Farbkugel. Wie Düsenjets bei Militärparaden die Nationalfarben in den Himmel zeichnen, zieht er eine Farbspur hinter sich her. Schön sieht das aus. Wie er Schleifen zieht und Streifen in den Himmel über Sderot malt. Die Farbe ist: Rot.