Der Schmerz der Hinterbliebenen
Tim Wegener
31.01.2022

"Uwe war tot. Mein kleiner Bruder. Ich würde ihn nie wieder sehen. Nie wieder mit ihm lachen. Würde ihn nicht mehr retten können. Es war zu spät. Dass Uwe irgendwann an seiner Drogensucht sterben würde, hatten wir seit Jahren befürchtet, auch wenn es jetzt überraschend geschehen war und sehr weh tat."

Jahrzehntelang war Kerstin Herrnkinds Bruder Uwe heroinabhängig. Genauso lange haben sie und ihre Mutter versucht, ihn zu retten. Sie haben ihn zu Therapien begleitet, ihn bei sich wohnen lassen, ihm Jobs besorgt, Geld gegeben und mit ihm geredet. Vergeblich.

Detailreich schildert die Journalistin Herrnkind in "Den Drachen jagen - Die Geschichte meines verlorenen Bruders" die Kindheit und Jugend in der norddeutschen Provinz der 1960er und 1970er, wo sie die Ursachen für den Absturz ihres Bruders vom stillen, tierlieben Jungen zum drogenabhängigen Obdachlosen sucht. Lag es am tyrannischen Vater, der sie seelisch misshandelt und Uwe nichts zugetraut hat? Lag es an der Trennung der Eltern? Oder an der harten Erziehung im Deutschland der Wirtschaftswunderjahre?

"In der Dorfstraße, in der wir den Großteil unserer Kindheit und Jugend verbrachten, lebten 13 Kinder. Vier sind tot. Gestorben an Alkohol oder Drogen. Vier von 13, fast ein Drittel. Und das sind nur die, von denen ich weiß."

Kerstin Herrnkind: "Den Drachen jagen - Die Geschichte meines verlorenen Bruders", Westend-Verlag 2022, 200 Seiten, Preis: 20 Euro

Herrnkind zeichnet das Sittenbild einer verbohrten, von Abstiegsängsten geprägten Gesellschaft, die vor allem Wert auf Statussymbole und eine heile Fassade gelegt hat. In der Männer keine Gefühle zeigen durften und Frauen gehorchen mussten. Sie geht auf Spurensuche in ihre Familiengeschichte: zu gewalttätigen Groß- und Urgroßvätern, die miterleben mussten, wie ihre Geschwister jung starben, wie die Weltkriege über sie hereinbrachen und ihnen die Sturmflut von 1962 in Hamburg das Zuhause nahm. Die ihre Kinder und Frauen schlugen, zu oft zum Alkohol griffen und letztlich "zu Stahl wurden".

Sie lässt ihre Mutter, Wegbegleiter von Uwe und Angehörige von Suchtkranken zu Wort kommen. Fast alle stellen sich die gleichen Fragen: Was waren die Gründe für die Abhängigkeit? Hätte die Katastrophe verhindert werden können? Hätte ich mehr tun können? Klare Antworten gibt es darauf letztlich keine. Was bleibt, ist der Schmerz der Hinterbliebenen.

Produktinfo

Kerstin Herrnkind: "Den Drachen jagen - Die Geschichte meines verlorenen Bruders"

Westend-Verlag, 2022

200 Seiten

Preis: 20 Euro

Veröffentlichung: 1. Februar 2022

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