Lena Uphoff
12.12.2010

Ich mag die Morgenandachten im Radio. Mein bevorzugtes Programm sendet sie täglich kurz nach halb sieben. Fünf Minuten zum Nachdenken, Anregungen für den Tag, die nicht einem Zweck genügen, die Bezug nehmen auf einen biblischen Text, auf eine Alltagsbeobachtung, auf einen Gedenk- oder Feiertag. Nicht immer erreichen mich die Autorinnen und Autoren mit ihren Beiträgen. Da geht es ihnen nicht anders als mir und Ihnen, geneigtes Publikum, mit diesen Kolumnen. Genau besehen passiert es aber überdurchschnittlich häufig, dass mich die Anstöße doch wenigstens ein Stück in den Tag begleiten.

Neulich, im schönen Monat November, schaffte es ein Pfarrer mit seinen Worten, meinen Adrenalinhaushalt in einem Maße zu beleben, wie ich es um diese Uhrzeit nicht für möglich gehalten hätte. Und dabei formulierte er inhaltlich gar nichts besonders Anstößiges. Was mich auf die Palme brachte, war der Stil oder besser die Grundhaltung, in der er seine Einsichten vermittelte. Die verabscheue ich, seit ich denken kann.

Er redete über das Grau und die Stille dieses Monats, sprach über abgeerntete Felder, Dunkelheit und Totengedenken. Und dann sagte er: "Wir brauchen diese Stille wie die Blütenpracht im Frühling. Wir brauchen diesen Rhythmus von Werden und Vergehen. Auch jene von uns, die versuchen, dieser Stimmung zu entkommen, indem sie in die Sonne fliegen, können ihr nicht entgehen. Und genau genommen wäre das auch nicht gut für sie. Wenn wir die Tiefen, Trauer und Niedergeschlagenheit nicht kennen, können wir uns auch an Festen wie Weihnachten nicht freuen."

Was mich stört, ist dieses "Wir", diese fürsorgliche Verein­nahmung. Als mein Schulfreund Siggi versehentlich mit einem Apfel eine Scheibe unseres Klassenzimmers eingeworfen hatte, knöpfte ihn sich unser Klassenlehrer Fritz mit dem Satz vor: "Wir alle meinen, dass du mit diesem Wurf eine Grenze überschritten hast. Wir bestehen darauf, dass du dich vor der Klasse dafür entschuldigst." - "Ich bin nicht dieser Meinung", rief ich dazwischen, "er hat das nicht absichtlich gemacht, sondern aus Versehen." Doktor Fritz lächelte dünn: "Ich verbessere mich: Alle anständigen Mitschüler und dein Lehrer sind dieser Meinung, Brummer nicht." Das hat mich nicht gestört. Ich lasse mich lieber ausgrenzen als vereinnahmen. Bis heute.

Ich habe Sehnsucht nach dem Paradies und brauche keine Kälte

Wenn jemand "wir" und "uns" in öffentlichen Reden verwendet, muss er wissen, für wen er redet. Die Vorsitzende einer ­Gewerkschaft oder der Chef einer Partei mögen das in Appellen und Grundsatzdebatten meinetwegen tun. Wer dort Mitglied ist, unterstützt ein Programm, das er kennt und zu dem er sich wahrscheinlich bekennt.

Wer über Gefühle, Wahrnehmungen und persönliche Einschätzungen redet, sollte bescheiden mit "ich" beginnen und dann die Frage nachschieben: "Vielleicht geht es Ihnen ähnlich?" Wenn ich weiter über diese Andacht nachdenke, stelle ich fest, dass mich doch mehr gestört hat als die Vereinnahmung im "Wir" und "Uns".

Ich mag diese geheuchelte Welterfahrung nicht mehr hören, diese scheindialektische Pseudoweisheit: Wer Höhen erleben will, muss Tiefen kennen; nur wer Trauer kennt, kann lustig sein. Muss wirklich vor Kälte geschlottert haben, wer sich an Wärme freuen will? Müssen wir ab und zu mal garstig miteinander ­umgehen, um Freundlichkeit schätzen zu können? Das ist von ­der billigen Sorte wie: "Schön, wenn der Schmerz nachlässt."

Ich habe eine Sehnsucht nach dem Paradies. Ich möchte, dass es immer heiter zugeht, auch im November. Ich möchte nicht säen und ernten und doch satt sein. Ich möchte lieben und geliebt werden, ohne die Lieblosigkeit zu kennen. Ich weiß, dass es bei der Sehnsucht bleiben wird. Geht es Ihnen anders?

Ich freue mich auf den Advent und auf Weihnachten. Und ich hoffe, Ihnen geht es ähnlich. Wünschen wir es einander. Ich mindestens wünsche es Ihnen.

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