Der staatliche Hilfefonds für Missbrauchsbetroffene ist gestoppt – viele warten auf eine neue Finanzierung
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Entschädigung für Opfer sexueller Gewalt
Betroffene gehen leer aus
Der staatliche Fonds für Missbrauchsbetroffene wurde gestoppt, weil Geld fehlt. Er war für viele der einzige Weg, Hilfe zu bekommen. Was folgt daraus? Interview mit der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung
Tim Wegner
11.08.2025
7Min

chrismon: Das Aus für den "Fonds sexueller Missbrauch" kam ziemlich überraschend. Jetzt können Menschen, die in Kindheit und Jugend sexuell missbraucht worden sind, keine Hilfen mehr beantragen – etwa Geld für eine Therapie oder einen Assistenzhund. Warum wurde der Fonds beendet?

Kerstin Claus: Dies war eine Entscheidung des Familienministeriums, das für den Fonds verantwortlich zeichnet. Es war abzusehen, dass der Fonds eine millionenschwere Finanzierungslücke hat. Der Bundesrechnungshof hatte bereits im vergangenen Frühjahr eine rasche Abwicklung gefordert, daher konnten Betroffene auch nur noch bis Ende August 2025 Erstanträge einreichen. Dass die verfügbaren Mittel bereits früher als erwartet aufgebraucht waren und daher die Frist im Juni rückwirkend auf den März vorgezogen wurde, kam auch für mich überraschend. Für Betroffene war dies ein verheerendes Signal. Der Haushalt 2025 befindet sich nun in der parlamentarischen Abstimmung. Daher liegt es jetzt an den Abgeordneten, ob sie die Verantwortung gegenüber den Betroffenen annehmen und die Mittel im Haushalt doch noch zur Verfügung stellen.

Viele Betroffene sind verzweifelt: Es fühle sich an wie damals als Kind, als ihnen niemand geholfen hat. Nun gibt es das reformierte soziale Entschädigungsrecht für alle Opfer von Gewalt – warum stellen Betroffene nicht darüber einen Antrag?

Das Opferentschädigungsrecht ist zwar reformiert worden, aber die Hürden für Betroffene sexualisierter Gewalt sind zu hoch geblieben. Die erste Hürde: Betroffene müssen die Tat nachweisen – aber sexuelle Gewalt findet hinter verschlossenen Türen statt, es gibt selten Zeugen.

Barbara Dietl für UBSKM

Kerstin Claus / UBSKM

Kerstin Claus ist die Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen (UBSKM). Sie war als Jugendliche selbst betroffen von Missbrauch durch einen Pfarrer

Und die zweite Hürde?

Die zweite Hürde: Betroffene müssen nachweisen, dass ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen die Folge der Gewalttaten sind, also etwa ihre posttraumatische Belastungsstörung. Für andere Opfergruppen hat man in anderen Gesetzen Vermutungsregeln eingeführt – seit 2025 auch für die Opfer des SED-Unrechtsstaates. Da sagt man: Wir gehen davon aus, dass die Haft die Ursache für deine posttraumatische Belastungsstörung ist. Auch bei Soldaten geht man davon aus, dass zum Beispiel eine Depression Folge eines Erlebnisses im Kampfeinsatz ist.

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Aber im sozialen Entschädigungsrecht müssen Betroffene nachweisen, dass ihre Schädigung von der Gewalttat kommt?

Genau. Und das sind endlose Verfahren, oft ohne Erfolg, gerade wenn Betroffene von sexuellem Missbrauch Anträge erst zehn, zwanzig, dreißig Jahre nach den Taten stellen. Meist erfahren sie spät, dass so ein Antrag möglich ist, häufig dauert es auch so lange, bis sie die traumatischen Ereignisse an sich heranlassen und dann auch eine Entschädigung beantragen. Dann heißt es seitens der Verwaltung oft: Aber da waren doch auch andere belastende Umstände in der Kindheit, nicht nur der Missbrauch.

Außerdem hat die sexuelle Gewalt vielleicht dazu geführt, dass jemand die Schule nicht abgeschlossen hat, dass stabile Beziehungen nicht möglich waren. Alles typische Folgen, die aber auch für sich psychische Krankheiten auslösen können. Also lehnen die Versorgungsämter immer wieder ab – mit der Begründung: Es lässt sich nicht eindeutig feststellen, dass deine Depression, deine Posttraumatische Belastungsstörung ursächlich mit dem erlittenen sexuellen Missbrauch zusammenhängt.

Endlose Verfahren, oft wie blanker Hohn

Klingt nach einem peinvollen Verfahren.

Ja, das ist oft wie blanker Hohn. Kein Wunder, dass Betroffene solche Verfahren selten gut aushalten und aufgeben. Das sind vollkommen unkalkulierbare Verfahren, die mit viel Kontrollverlust einhergehen. Für Betroffene von sexuellem Missbrauch ist Kontrollverlust das so ziemlich Herausforderndste. Dazu dauert die Prüfung oft Jahre. Und wenn der Antrag abgelehnt wird, müssen Betroffene erst Widerspruch einlegen oder dann das Sozialgericht einschalten und klagen. Das bedeutet jahrelange Ungewissheit und Warten auf Unterstützung oder Hilfe.

Dann stellen vermutlich viele Betroffene von sexuellem Missbrauch gar keinen Antrag?

Genau. Denn über Fachberatungsstellen oder auch andere Betroffene sind die Hürden und Zumutungen solcher Verfahren ja bekannt. Viele entscheiden deswegen, erst gar keinen Antrag nach dem Opferentschädigungsrecht zu stellen. Deswegen ist der Fonds sexueller Missbrauch ja so elementar wichtig, weil er so oft der einzige Weg ist, niedrigschwellig Hilfe zu bekommen. Daran hat auch die Reform des Opferentschädigungsrechts 2019 nichts geändert.

Was hat der Staat überhaupt mit Opferentschädigung zu tun?

Der Staat entschädigt Menschen, weil er sie nicht hinreichend vor Gewalt geschützt hat. Sie sollen also mit den Folgen der Gewalt nicht allein bleiben. Ziel des Entschädigungsrechts ist, die Betroffenen bestmöglich so zu unterstützen, dass die Tatfolgen gelindert werden, körperlich als auch finanziell. Sei es über medizinische Leistungen und Therapien oder über schulische und berufliche Qualifizierung beziehungsweise Umschulung. Wenn jemand wegen der Gewaltfolgen nicht mehr arbeiten kann, sind Rentenzahlungen möglich. Alles, damit Betroffene möglichst dahin kommen, wo sie heute ohne die erlittene Gewalttat stünden. Es geht also nicht um ein Schmerzensgeld, sondern um eine echte Entschädigung.

Wenn man Opfer eines Raubs oder eines Anschlags wurde, scheint es deutlich leichter, anerkannt zu werden. Warum fallen gerade die Opfer von sexuellem Missbrauch hinten runter?

Weil wir uns als Gesellschaft nicht mit den Täterstrategien auseinandersetzen. Ganz egal, ob die sexuelle Gewalt in der Familie war oder im Kontext der Schule oder sonst wo: Täter tun alles, damit das Opfer nicht über die Taten spricht. Gleichzeitig manipulieren Täter und Täterinnen immer auch das Umfeld, und zwar strategisch von Anfang an, damit niemand Verdacht schöpft und damit im Zweifelsfall ihnen geglaubt wird und nicht dem jungen Menschen. Wenn wir den Blick auf die Täterstrategien richten würden, würden wir verstehen, warum der Nachweis der Tat so schwierig ist.

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Der Fonds sexueller Missbrauch hat doch auch geprüft – oder musste man gar nichts nachweisen?

Man musste angeben, in welchem Kontext sich die sexuelle Gewalt ereignet hat. Leistungen wurden zuerkannt, wenn es um Taten in der Familie ging oder aber in Institutionen, die sich am Fonds beteiligt haben, beispielsweise dem Sport oder der evangelischen Kirche. Zeitraum, Ort, auch Namen wurden erfragt – aber man musste keine weiteren Belege beibringen. Die Angaben wurden einzig auf Plausibilität geprüft. Zum Beispiel: Hat die Person überhaupt da gelebt, wo sie angegeben hat, sexuelle Gewalt erlebt zu haben.

Wenn man so wenig belegen musste, hat das nicht dazu geführt, dass das niedrigschwellige Hilfesystem des Fonds ausgenutzt wurde?

Der Fonds wurde 2013 eingerichtet, und es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Menschen einen Opferstatus vortäuschen, um Leistungen zu beziehen. Es werden auch nicht einfach 10.000 Euro über den Tisch geschoben. Sondern es werden Sachleistungen bewilligt, und die Ausgaben muss man nachweisen.

Bewilligt werden also etwa ein Umzug aus dem Landkreis des Täters, eine berufliche Fortbildung, um endlich Fuß zu fassen, eine bestimmte Therapie, die die Krankenkasse nicht bezahlt ...

Genau. Das Besondere ist hier, dass die Betroffenen entscheiden können, was ihnen in ihrer jeweiligen Lebensphase am ehesten helfen könnte. Es entscheidet also nicht wieder jemand anderes, etwa die Krankenkasse, sondern die Person selbst. Das Prinzip des Fonds ist damit gerade nicht die dauerhafte Alimentierung, sondern der Fonds steht eher für das Prinzip "stand up and walk". Er soll die Menschen unterstützen, nach vorn zu blicken, neue Wege einzuschlagen. Betroffene melden uns immer wieder zurück, dass genau das ganz viel verändert hat bei ihnen: dass sie selbst entscheiden dürfen, was gut für sie ist. Nachdem Täter alles dafür getan hatten, ihren eigenen Willen zu unterbinden. Deswegen ist der Fonds so ein Erfolgsmodell.

Jetzt sind die Abgeordneten in der Pflicht

Obwohl 10.000 Euro pro Person oder, bei Behinderung, 15.000 Euro nicht wirklich viel sind.

Das ist hocheffizient eingesetztes Geld. Denn es eröffnet Zukunftsperspektiven, weil so mehr Stabilität im Leben möglich wird. Das zahlt ein auf Beruf, auf die Familie, die eigenen Kinder. Oft sind es kleine Schritte, die den Unterschied machen. All das zahlt sich am Ende auch für den Staat aus. Deswegen sage ich: Das ist genau der richtige Weg, es braucht umgehend eine Lösung, damit über ein Nachfolgemodell diese niedrigschwellige Unterstützung weiter möglich bleibt.

Wer müsste jetzt was tun?

Die Lösung war eigentlich schon da: Der Fonds sollte gesetzlich verankert werden. Deswegen stand er ursprünglich im Entwurf des Gesetzes zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen (UBSKM-Gesetz). Doch die vorherige Familienministerin Lisa Paus (Grüne) konnte sich hier nicht beim Bundesfinanzministerium, damals von der FDP geführt, durchsetzen. Dort blieb man beim Nein, scheute die Kosten.

Jetzt, im neuen Koalitionsvertrag von Union und SPD steht zwar, dass man den Fonds sexueller Missbrauch fortsetzen will, aber der jetzigen Familienministerin Karin Prien (CDU) ist es bisher nicht gelungen, das Bundesfinanzministerium dazu zu bewegen, Gelder für den Fonds zu bewilligen. Daher hat Prien jetzt an die Abgeordneten appelliert, über das parlamentarische Verfahren dafür zu sorgen, dauerhaft Mittel für ein solches Unterstützungssystem einzustellen und eine gesetzliche Grundlage zu schaffen. Auch ich sehe hier die Abgeordneten in der Pflicht. Diese Frage duldet keinen Aufschub, Betroffene brauchen eine verlässliche Lösung, nicht irgendwann, sondern heute.

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