chrismon: Wann haben Sie sich das letzte Mal richtig frei gefühlt?
Bernhard Schlink: Ich fühle mich immer frei. Das ist eine enttäuschende Antwort, ich weiß. Sie hätten gerne den einen großen Moment. Aber es ist so.
Bernhard Schlink
Wie kommt das?
Wir sind frei, wenn wir nach dem Gesetz leben, das wir uns selbst geben. Nicht nach den Vorgaben und Vorstellungen anderer, nicht in Abhängigkeit von unseren momentanen Befindlichkeiten, Stimmungen, Launen. Die Vorgaben anderer können so überwältigend, so unterdrückend sein, dass wir uns ihnen nicht entziehen können. Aber das ist selten, und meistens ist die Freiheit, die wir uns selbst geben, wichtiger als die, die uns die anderen lassen. Sollte Sie irritieren, dass wir uns mit einem Gesetz Freiheit geben, denken Sie an Alkohol- und Drogenabhängige, die statt unter dem eigenen Gesetz unter dem der Sucht leben.
Was meinen Sie mit dem selbst gegebenen Gesetz?
Es ist das Wissen, was zählt, was man will, wie man mit sich und mit anderen richtig umgeht. Man könnte auch daran denken, von einem Lebensplan zu sprechen. Aber Gesetz trifft es besser; Lebenspläne müssen immer wieder veränderten Lebenssituationen angepasst werden. Eine Zeit lang stehen die Kinder auf dem Lebensplan, eine Zeit lang Beruf und Karriere, für mich bestimmte lange das Recht das Leben, dann kam das Schreiben dazu. Aber wie die gewählten und gestellten Aufgaben anzugehen und ihnen gerecht zu werden ist, verändert sich nicht gleichermaßen.
Aber fühlen Sie sich wirklich nie unfrei?
Natürlich setzen mir die Regeln des Zusammenlebens Grenzen. Aber sie lassen mir viel Freiheit, und überdies sichern sie meine Freiheit.
Vor fünf Jahren begann die Corona-Pandemie. Damals gab es große Freiheitseinschränkungen, der Staat hat massiv in das Leben der Bürger eingegriffen. Haben Sie sich auch damals frei gefühlt?
Für viele waren die Einschränkungen furchtbar; ich denke besonders an Familien mit Eltern im Homeoffice und Kindern ohne Schule in kleinen Wohnungen. Für mich war es eine gute Zeit. Es ist vieles weggefallen, was sonst meinen Alltag bestimmt und belastet. Ich konnte Tag um Tag an meinem Buch "Die Enkelin" schreiben, und ich konnte wieder einmal einen großen Roman lesen, verschiedene Interpretationen derselben Beethoven-Sonate anhören und vergleichen – Dinge, zu denen ich sonst nicht komme.
Hatten Sie nicht das Gefühl, der Staat greift zu sehr in das private Leben ein, gibt vor, was man tun darf und was nicht?
Nein. Der Staat wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte – woher sollte er es auch wissen? Er hat schlecht und recht versucht, das Richtige zu machen. Das ist ihm immer wieder nicht gelungen. Schon damals konnte man an manchem zweifeln, und im Rückblick sehen wir die Fehler deutlich. Aber dass der Staat damals die Unterdrückung der Bürger, das Eindringen in ihre Privatsphäre geprobt hätte, wie es manchmal hieß, habe ich immer für Unsinn gehalten.
Es gibt ja nicht wenige Menschen, die sagen: Früher war das Leben freier! Man durfte mehr sagen, man musste nicht so sehr darauf achten, wie man sich benahm. Wie sehen Sie das?
Die lebensweltliche Freiheit hat abgenommen, zumal für Kinder. Es wird viel mehr auf ihre Sicherheit geachtet, und das muss man auch. Das Rollschuhlaufen, Fußball- und Federballspielen auf der Straße, das Räuber-und-Gendarm-Spielen um die Ecken – es ist vorbei. Das liegt nicht an staatlichen Maßnahmen, sondern an gesellschaftlichen Entwicklungen. Mit den Veränderungen dessen, was Menschen sich zu sagen trauen oder scheuen, verhält es sich ebenso.
Waren Sie als Kind schon so frei, wie Sie es am Anfang des Gesprächs beschrieben haben?
Dass Freiheit bedeutet, ein selbst bestimmtes, aber eben: ein selbst bestimmtes Leben, nicht einfach ein Leben nach Belieben zu führen, habe ich in meinem Elternhaus gelernt.
Sie sind ja sehr religiös aufgewachsen. Hat das eine Rolle gespielt?
Mein Vater war Theologieprofessor, während des Krieges Pfarrer, und wir lebten wie im klassischen protestantischen Pfarrhaus. Mit einem Bach-Choral an jedem Sonntagmorgen, den Losungen der Brüdergemeinde vor jedem Frühstück, lange auch mit Bibellektüre nach jedem Abendessen. Wir gingen jeden Sonntag in die Kirche, und an Karfreitag gab es nachmittags noch eine häusliche Liturgie. Das Zusammenleben erhielt seine Rituale durch die Religion.
Hat Sie das als Kind nicht genervt?
Es gab natürlich Situationen, in denen ich lieber etwas anderes gemacht hätte. Zugleich habe ich Rituale im Leben mögen gelernt. Es müssen nicht die Rituale des protestantischen Pfarrhauses sein. Aber Rituale entlasten.
War Ihre Mutter auch so religiös?
Meine Mutter war Schweizerin und reformiert. Mein Vater brachte die Rituale in mein und meiner Geschwister Aufwachsen, meine Mutter das Gewissen. Sie hat uns eine starke Gewissensbindung mitgegeben.
Eine Mutter, die ihrem Sohn ins Gewissen redet – das hört sich nicht nur befreiend an.
Es war nicht nur befreiend. Die Liebe zwischen Mutter und Kind und die Forderungen des Gewissens können sich schwierig ineinander verschlingen. Aber während des Heranwachsens und Älterwerdens wird aus der mitgegebenen die eigene Gewissensorientierung und -bindung.
Haben Sie als Kind an Gott geglaubt?
Ich habe schon früh eher an die Kirche geglaubt als an Gott. Ich bin gerne in die Kirche gegangen, mochte die Lieder, die Liturgie, den Raum und die Zeit zum Träumen und Nachdenken. Ich gehe auch heute noch gerne in die Kirche. Aber wenn ich’s tue, sind die Predigten meistens so unsäglich banal, dass ich wieder lange wegbleibe. Vom Gottesdienst – ans Austreten aus der Kirche denke ich nicht. Sie ist eine Gemeinschaft von Menschen, die guten Willens sind, der ich mich verbunden fühle.
Gott war nie wichtig für Sie?
Ganz früh war Gott jemand wie Onkel Heini oder Tante Marie. Er gehörte gewissermaßen zur Familie. Wie von Tante Marie über Jahre nur die Rede war, ich sie nicht sah, es sie aber gab, so war es auch mit Gott. Allerdings kam Tante Marie gelegentlich, während Gott und ich uns nie begegnet sind.
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Bedauern Sie, dass Sie nicht an Gott glauben können?
Nein. Aber ich verdanke meiner religiösen Prägung in Kindheit und Jugend viel. Wir sprachen über die Freiheit, die andere und zumal der Staat uns lassen, und die Freiheit, die wir uns selbst geben. Es gibt auch die Freiheit des Christen, die nicht nur die Freiheit des Christen ist, die ich aber als Freiheit des Christen kennengelernt habe. Sie hat ihren Grund darin, dass wir in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt sind. Wie immer es um unsere Angelegenheiten in der Welt steht, ob wir mit den Aufgaben, die uns wichtig sind, Erfolg haben oder scheitern, ob wir mit den Dingen, die uns teuer sind, glücklich oder unglücklich werden, ob die Menschen, die wir lieben, uns wiederlieben oder enttäuschen – wir gehen weder in den Aufgaben noch in den Dingen noch in den Menschen auf. Uns ist gegeben, um die Bedingtheit von allem zu wissen, was wir tun – auch wenn wir es mit ganzem Einsatz tun.
"Wissen schafft Abstand, und der Abstand schafft Freiheit"
Bernhard Schlink
Was folgt daraus für Ihr Leben?
Das Wissen schafft Abstand, und der Abstand schafft Freiheit. Freiheit von der Sorge darum, wie, was ich tue, ankommt, ob es gemocht wird, ob ich gemocht werde. Ich kann nur tun, was richtig ist; alles andere mag kommen, wie es kommen mag.
Zurzeit sorgen sich einige, dass dieses Land auf eine Zeit der Unfreiheit zugeht. Etwa, wenn die AfD einmal politische Macht bekommen sollte. Können Sie diese Bedenken teilen?
Ja. Bei uns in Deutschland, in Europa, in den USA und in Asien wird der populistische Autoritarismus immer stärker. Wo er sich durchsetzt, schränkt er Recht und Freiheit drastisch ein; er beseitigt die Unabhängigkeit der Justiz und diffamiert und diskriminiert die, die nicht auf seiner Linie liegen.
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Würden Sie sagen, es droht uns ein neuer Faschismus, sind wir "fünf vor 1933", wie ein aktuelles Buch heißt?
Es droht keine Judenverfolgung und -vernichtung. Aber was uns droht, sehen wir dieser Tage in Amerika. Dort ist eine Gleichschaltung im Gange, wie es sie 1933 teils durch staatliche Nötigung, teils in vorauseilendem gesellschaftlichen Gehorsam gab. Die Wirtschaft schaltet sich selbst gleich, große Kanzleien tun es ihr nach. Die Universitäten müssen, was gesagt und geforscht werden darf, auf Trumps Linie bringen oder zerstörerische Mittelkürzungen gewärtigen. In den gesellschaftlichen Institutionen werden Sprachregelungen ausgegeben, damit man nicht in das Visier der Trump-Administration gerät. Ob es in zwei und vier Jahren wieder faire Wahlen gibt, ist offen; Trump zerschlägt die Einrichtungen, die die Fairness der Wahlen gewährleistet haben.
Dann sind die Warnungen vor einem neuen Faschismus oder gar vor den neuen Nazis doch berechtigt?
Warnungen sind berechtigt; sie immer wieder auf die Begriffe des Faschismus oder des Nazitums zuzuspitzen, halte ich für wenig hilfreich. Die Begriffe überzeugen nicht; es braucht die Auseinandersetzung in der Sache.
Woher kommt der Aufschwung dieses populistischen Autoritarismus?
Er hat viele Gründe. Ein Grund, nicht der wichtigste, aber ein besonders eindrücklich erlebter, ist die kulturelle Entwicklung mit ihrer für viele unverständlichen, viele abstoßenden Wokeness, der übertriebenen Beschäftigung mit Transgeschlechtlichkeit, der übertriebenen Moralisierung.
Was meinen Sie mit Moralisierung?
Der Blick auf die Vergangenheit, der sich weniger dafür interessiert, wie sie war, als wie sie moralisch zu beurteilen ist, das Absagen von Vorträgen, deren Themen oder Thesen für moralisch fragwürdig gehalten werden, die Eingriffe von Lektoraten in Bücher, damit niemand an ihnen moralisch Anstoß nimmt, der akademische Sprachgebrauch, der auf jede moralische Sensibilität Rücksicht nimmt. Das provoziert einen Rückschlag, der hoffentlich nicht zu viel kaputt macht.
Sie sind viel in Amerika und haben den typischen Amerikaner mal so beschrieben: "Er will niemand sein, um den man sich kümmern muss. Wenn er sein Stück Land, sein Haus, sei’s auch ein Trailer, seinen Pick-up und sein Gewehr hat, sieht er sich, selbst wenn er Sozialleistungen bezieht, als seinen eigenen Herrn." Ist das eine Beschreibung von Freiheit?
Ein kleiner König eines kleinen Königreichs zu sein, ist eine Art von Freiheit.
Sind die Amerikaner freier als die Deutschen?
Ihre Situation ist anders. Die Politik ist für sie weiter weg als für uns, die Weltpolitik ohnehin, aber auch die Politik in Washington und sogar die im eigenen Bundesstaat. Die Schulen sind Sache der Gemeinden, die Infrastruktur ist es weithin auch, und die Arbeitsbedingungen muss man selbst aushandeln. Es gibt nicht unsere Erwartungen an soziale Gerechtigkeit. Wem es schlecht geht, der beschwert sich nicht über den Staat und die Gesellschaft, sondern fühlt sich selbst verantwortlich – eine Einstellung, die Bürde und Freiheit zugleich ist.
Sie sind 80 Jahre alt. Wird die Freiheit mit dem Alter größer oder kleiner?
Das Alter macht mich freier, weil seit dem Ausscheiden aus Universität und Gericht weniger Aufgaben anstehen, die nicht danach fragen, ob sie mir gerade zupasskommen, keine Klausuren, die korrigiert werden müssen, keine Staatsprüfungen, keine Fälle, auf die ich mich vorbereiten muss.
Das Älterwerden bringt auch irgendwann große Unfreiheit: körperlichen und geistigen Verfall und damit große Einschränkungen. Macht Ihnen das Sorgen?
Was würden die Sorgen helfen?
Es gibt heutzutage Menschen, die sagen: Bevor ich dement werde oder nur noch bettlägerig bin, beende ich mein Leben selbstbestimmt.
Wenn ich das kommen sehe, denke ich sicher darüber nach. Mein Onkel und meine Tante haben sich mit Anfang 90 aus solchen Gründen das Leben genommen. Ich kann mir das auch vorstellen.
Denken Sie manchmal an den Tod?
Manchmal denke ich, es ist gut, dass ich viele schlimme Entwicklungen der Zukunft nicht mehr mitbekomme. Zugleich interessiert mich, wie alles weitergeht, und ich würde gerne auf die nächsten zwei-, dreihundert Jahre schauen, wie ich auf die letzten schauen kann.
Ist Nachruhm für Sie wichtig, oder sind Sie frei von solchen Gedanken?
Ich erinnere mich an die Bibliothek meiner Eltern. Werner Bergengruen, Hans Carossa, Edzard Schaper, Ernst Wiechert – es war die Literatur der Zeit, manche Bücher wären auch heute noch wert, gelesen zu werden, aber ihre Zeit ist vorbei. So wird es auch meinen Büchern gehen. Sie sind die Bücher meiner Zeit, und die nächste Zeit wird andere haben.