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"Betrogen durch Geburt um jeden Vorteil, verformt, unfertig": Diese Worte spuckt Rashida York geradezu ihrem Spiegelbild entgegen. Normalerweise gehören die Sätze, sinngemäß, Shakespeares "Richard III.". Doch Burhan Qurbani hat die Handlung ins Berlin von heute verlegt. Anstelle der Häuser York und Lancaster bekriegen sich Clanfamilien, aus Richard wird Rashida, und nicht mehr der missgebildete Körper, sondern die Rolle als Frau ist der Makel der Figur. Die vorgegebene Rangordnung aber will Rashida nicht akzeptieren. Sie beginnt, gegen die eigene Familie zu intrigieren, und geht ihren von Leichen gesäumten Weg Richtung Herrschaft.
Anders als bei seinem Vorgängerfilm "Berlin Alexanderplatz" realisiert Qurbani hier keine konsequente Umwandlung des Stoffs, sondern lässt klassische Vorlage und Modernisierung fließend ineinander übergehen. Teilweise holzschnittartig werden Themen wie Clankriminalität, Glaubens- und Kulturkämpfe, Migration und Geschlechterrollen einbezogen und dienen als Folie, vor der sich der von Enis Maci adaptierte Shakespeare-Text entfaltet, mit all seinem künstlichen Pathos, das das Ensemble voll ausspielen darf. Ähnlich wie bei vielen Theaterinszenierungen entsteht ein abstrakter Raum, in dem die Aktualität der Geschichte aufgezeigt wird, aber zugleich die Möglichkeit für ein freies Spiel mit dem Stück bleibt.
Genau wie die Sprache behält auch die Inszenierung etwas Künstliches. Egal ob Zwischenüberschriften, in Zeitlupe inszenierte Mordanschläge oder durch die Nacht gleitende Autos und Motorräder, die Szenen wirken stets überstilisiert. Dass es sich um Berlin handelt, hört man zwischendurch in den Nachrichten, die Orte selbst sind unbestimmbare dunkle Gassen, karge Tempel und mit Teppichen und Vorhängen eingerichtete Innenräume, durch die die Kamera geradezu zu schweben scheint.
Die sogartige Wirkung dieser Bilder wird verstärkt durch einen Klangteppich aus sphärischen Gesängen und die wuchtige Synthesizer-Musik von Dascha Dauenhauer (nominiert für den Deutschen Filmpreis). Eine ironische Brechung erfährt die Inszenierung durch das immer wieder forcierte Aufeinanderprallen von pathetischer und Slang-Sprache ("cool", "Fotze") oder wenn sich Richards bekannter Ruf nach einem Pferd zu "Ein Königreich für meinen Jaguar" wandelt.
Besonders im zweiten Teil zeigt sich, wie sehr "Kein Tier. So Wild." ein Hybrid aus Film und Theater ist. Das Setting wechselt zu einem bühnenbild-artigen Zelt voller Sand, Schlamm, Geröll und Autowracks; ein Königreich gebaut auf Schutt und Asche. Mittendrin die nun fast durchgehend weiblichen Hauptfiguren, dazu Rashida auf einem abgewetzten Massagestuhl, neben sich Bubble-Tea und Maniküre-Produkte; ein weiteres Beispiel dafür, wie lustvoll hier mit ästhetischen Gegensätzen gespielt wird. Stärker noch als zu Beginn liegt der Fokus auf den Dialogen, die dank schneller Schnitte und vieler Close-ups an Intensität gewinnen. Hier offenbaren sich endgültig Rashidas Abgründe. War sie zunächst kaltblütig wie klug intrigierend, verfällt sie immer mehr dem tyrannischen Wahn, unter dessen Gewand hilflose Leere durchscheint.
Getragen wird der Film von der Schauspielkunst des durchweg starken Ensembles, aus dem Hauptdarstellerin Kenda Hmeidan hervorsticht. Die 32-jährige Syrerin floh 2015 nach Deutschland, wo sie zunächst im Exil-Ensemble des Maxim-Gorki-Theaters spielte und später fest engagiert wurde. Ihr Kinodebüt gab sie 2024 in "Tage mit Naadirah". Als Rashida legt sie ein stetes Lauern in ihren Blick und lässt jede Regung ihres Gesichts, jedes bösartig zufriedene Lächeln, jede hasserfüllte Zornesfalte zu einem Ereignis werden, während ihre Körperhaltung mit zunehmender Dauer etwas bedrohlich Animalisches bekommt. Und nicht zuletzt füllt gerade sie die künstliche Sprache mit Leben und zischt, haucht, hämmert die Worte mit solch messerscharfem Gefühl heraus, dass dies allein den Film schon sehenswert macht.
Regie: Burhan Qurbani. Buch: Burhan Qurbani, Enis Maci. Mit: Kenda Hmneidan, Verena Altenberger, Hiam Abbass, Mehdi Nebbou, Meriam Abbas. Länge: 142 Min. FSK: ab 16. FBW: ohne Angabe.
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