Migräne
Jammern oder Zähne zusammenbeißen?
Migräne ist übel. Lange haben Patientinnen die Zähne tapfer zusammengebissen. Die Jüngeren aber werden laut, sie leiden auf großer Bühne. Cool oder mimimi?
Gesicht einer Frau, das von den Splittern eines Spiegels umgeben ist
Antonia Hrastar
Tim Wegner
privat
07.03.2025
12Min

Ein feuchtwarmer Frühsommerabend in der Kulturkirche Köln-Nippes. Wo sonst die Bläck Fööss oder Köbes Underground auftreten und Karnevalslieder einsingen, steht heute Abend "Bombenkopf" auf dem Programm, ein Abend über Migräne. Die Kirchenbänke dicht gefüllt mit jungen Frauen und sehr wenigen Männern. Einige haben ihre Mutter mitgebracht, zwei ihren Assistenzhund mit Schürze, "Pfoten weg!". Wo der Kirchbaumeister vor 200 Jahren die Gesangbuch­ablage vorgesehen hat, liegen heute Abend viele Handys und ein paar Noise-Cancelling-Kopfhörer. Vor der Show unterhält man sich über Menstruationsschmerzen und Schilddrüse, es geht um Kupferketten und warum es einfach keine Termine gibt beim Psychotherapeuten. "Ich dreh noch durch."

Licht aus, Phia Quantius, Jahrgang 1998, betritt die Bühne. Sie ist Influencerin, 275 000 Follower auf Insta­gram. Rote lange Haare, Minirock und schwarze Stiefel. "Hallo Köllefornia, ich bin scheiße aufgeregt", ruft sie in die Menge, frenetischer Beifall. "Wer von euch hat Migräne? Wer hat überlegt, heute Abend gar nicht kommen zu können wegen Migräne?" – viele Arme recken sich in die Luft. "Beschissenes Migränewetter", beruhigt Phia ihre Mitleidenden, "aber das hier ist ein Safe Space. Du kannst zwischendurch aufstehen, etwas trinken, an die frische Luft gehen. Mach, was dir guttut." Zustimmendes Nicken.

Ich reibe mir verwundert die Augen. Eine ganze Show über Migräne? Die jungen Frauen hier könnten ­meine Töchter sein. Auch ich habe im Alter von 18 meinen ­ers­ten Migräneanfall bekommen. Aber damals, Anfang der 80er Jahre, wäre niemand auf die Idee gekommen, ­daraus ein großes Thema, gar eine Show zu machen. Zähne zusammen­beißen, Tabletten nehmen, weiterarbeiten. War vermutlich auch nicht so günstig für Körper und Seele.

Phia ist neben Migräne-Influencerin auch noch Tier­retterin. Wer ihr auf Insta folgt oder heute Abend die Show besucht, sieht sie mit ihrem Freund Malte im Kombi in ­ungarische Tierheime fahren. Wenn unterwegs die Migrä­ne kommt, dreht Malte ein Reel, also einen ­kleinen Film für Instagram: Wie er sie beim Spucken über der Schüssel festhält, sie mit dem Schal einwickelt, ihr ein Migräne­mittel gibt, ein Triptan, das sie "vollkommen aus dem Leben knockt". Hm. Ich nehme auch Triptan, ein hochwirksames Mittel, das schnell hilft, aber fast keine Nebenwirkungen hat. Man kann es auch ohne einen Tierretter an seiner Seite einnehmen, es sind einfach ­Tabletten. Aber das Leiden, es ist Teil dieser Insta-Identität. "Ich bin nicht komisch", spricht Phia nun mit großem Pathos in die ­Menge, "ich bin nicht komisch, ich bin krank!" Den Spruch gibt es auch als Poster am Tourbus. Begeistertes Klatschen.

Welcher Umgang mit Migräne ist sinnvoll?

Ganz ehrlich – ein bisschen komisch kommt es mir schon vor, die Migräne so offensiv nach außen zu tragen. Ja, Migräne ist eine schwere neurologische Erkrankung. 28 Prozent der Frauen und 18 Prozent der Männer leiden laut der aktuellen Burden-­Studie innerhalb eines Jahres darunter. Bei Personen unter 50 Jahren ist Migräne die häufigste Ursache für eine Behinderung. Jeden Tag sind in Deutschland 100 000 Menschen wegen Migräne krankgeschrieben. Grund genug, genauer hinzuschauen: Welcher Umgang mit der Krankheit ist sinnvoll?

Ich trete eine kleine Rundreise an zu Menschen, die es besser wissen als ich. Denn über die jungen Leute zu ­läs­tern, die schon mit 21 in eine "Quarterlife-Crisis" ­rutschen und auf den sozialen Medien ihre Migräne, ihr ADHS oder ­ihre Schüchternheit herausbrüllen – ­geschenkt. Damit kann ich zwar in meinem Boomer-Freundinnenkreis schnell punkten. Aber wir Älteren haben es ja auch nicht gut hin­bekommen. Schmerzen weggelächelt und viel zu viele ­Tabletten genommen. Den Männern an ­unserer Seite – und viele Thomasse waren deutlich tumber als der nette Malte – signalisiert, dass wir uns schon gleich wieder zusammen­reißen würden, dass wir auf ­jeden Fall trotz Migräne voll einsatzbereit sind und keine Spaß­verderberinnen. War auch bescheuert.

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Meine erste Forschungsreise führt nach Kiel, in die Schmerzklinik von Professor Hartmut Göbel. Das Backsteingebäude direkt an der Mündung des Flüss­chens Schwentine war früher eine Fabrik, Hermann ­Anschütz und der Physiker Albert Einstein haben hier den Kugel-­Kreiselkompass erfunden. Der Geist der ­beiden Multitalente – Anschütz hatte Medizin und Kunst­geschichte studiert und war Erfinder – weht durch die lichtdurch­fluteten Hallen, nichts deutet auf ein Kranken­haus hin.

Als Hartmut Göbel 1997 das Haus der "­integrierten Schmerzversorgung" widmete, führte auch er viele Disziplinen zusammen: Psychotherapie, Neurologie, ­Ernährungswissenschaft, Sport. Heute gilt seine Schmerzklinik als erste Adresse für Patienten mit Spannungs­kopfschmerz, Clus­ter und Migräne und ­anderen chronischen Schmerzen. Göbel, geboren 1957, Neurologe und Psychologe, ist ein feinsinniger Mann mit einem Faible für Kunst und klassische Musik. Und für die Bibel. Aufgewachsen im ­katholischen Franken, hörte er oft als Kind die Schreie von todgeweihten Patienten. "Sterben muss wehtun", sagten ihm die Ordensschwestern, das habe eine reinigende Funktion.

Lange hallte die Nazi­zeit nach mit ihrer Härte gegen sich und andere: "Hart wie Kruppstahl"

Damit wollte er sich schon als kleiner Junge nicht abfinden. "Jesus selbst linderte Leid und Schmerzen von Lahmen, Blinden, Verkrüppelten und Stummen. Und für sich selbst nahm er in seiner Todesstunde am Kreuz den Essig an", sagte er den Nonnen, und dass das bestimmt kein Naturgesetz sei mit den Schmerzen. Als er sich später im Medizinstudium auf Schmerzen spezialisieren wollte, riet man ihm ab. Er solle lieber ein "richtiger Arzt" werden. "Mein Mentor riet zum Thema Enddarm­erkrankungen", erinnert er sich, "Kopf­schmerzen galten als Nebensache. Dabei ist unser Geist doch das Edelste, was wir haben!"

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Dass Schmerzen so lange ignoriert wurden, hält Göbel auch für ein deutsches Phänomen. Lange hallte die Nazi­zeit nach mit ihrer eiskalten Härte gegen sich und andere: "Hart wie Kruppstahl." Leid hatte man ehrenhaft zu ertragen. "Als in England und den USA Schmerz­patientinnen schon längst über ihr Leiden sprachen, traute sich in Deutschland noch niemand, irgendeine Art von Schwäche zu zeigen." Auch eine Psychotherapie, in anderen Ländern längst verbreitet, galt im Wirtschaftswunder-Deutschland als erster Schritt in die Psychiatrie. Und die war weit draußen vor der Stadt, tabuisiert wie zur Nazizeit. Erbkrankheit.

Migräne galt mehr oder weniger als eingebildete Krankheit. In "Pünktchen und Anton", dem wunderbaren Kinderbuch von Erich Kästner, heißt es: "Nach dem Mittagessen kriegte Frau Direktor Pogge Migräne. Migrä­ne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat." Das haben Generationen von Kindern gelesen. "Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat."

Es folgten die 60er Jahre mit ihrem mechanistischen Weltbild. Den Pudding machte man mit Dr. Oetker, Strom kam aus der Steckdose. Und "Spalt schaltet den Schmerz ab". Auch keine gute Zeit, um offen über chronische Kopfschmerzen zu reden. Noch in den 90er Jahren, erinnert sich Göbel, rief ab und zu das Fernsehen bei ihm an und fragte nach prominenten Migränepatienten. "Keiner wollte sich outen", sagt Göbel, "auf den heißen Stuhl bei RTL habe ich dann Brigitte Mira vermittelt, die war schon über 80 und musste keine Angst haben, danach keine Engagements mehr zu bekommen." Denn das klang bei ­Kopfschmerzen und Migräne immer mit: Die ist nicht belastbar. Die nimmt sich regelmäßig ihre Migräne.

Das war auch für mich lange der Grund, lieber still zu leiden. Die wenigen Schriftstellerinnen, die sich in meiner Jugendzeit zu ihrer Migräne bekannten, klangen eher defensiv. Die große Joan Didion schrieb 1979 über ihre Migräne­anfälle: "Und wenn er (der Anfall) kommt, ­wehre ich mich nicht dagegen. Ich lege mich hin und lasse es geschehen." Ähnlich auch Siri Hustvedt: "Bei meinen ­Migränen, die weiterhin kommen, habe ich herausgefunden, dass Kapitulation dem Kämpfen vorzuziehen ist."

Schmerz sollte nicht zum Lebensinhalt werden

Geschehen lassen, kapitulieren und schön still leiden, so hat das meine Generation gehandhabt. Jetzt scheint das Pendel in die andere Richtung zu schlagen: laut klagen, wehklagen und anklagen. Was sagt der Professor dazu? Er wiegt bedächtig den Kopf. Gut findet er, wenn Influencerinnen und andere Schmerzpatienten Wissen verbreiten, "Wissen ist die beste Medizin, so kann man sich zum Anwalt seiner Krankheit machen." Skeptisch ist er, wenn die Krankheit der Lebensmittelpunkt wird. "Dann kann man ja gar nicht gesund werden, weil sonst der Sinn wegbricht im Leben. Oder sogar das Geschäftsmodell."

Also – welcher Umgang mit Kopfschmerzen ist nun ­gesund? Da muss der Neurologe etwas ausholen. Er spricht von der "Siebenfaltigkeit des Schmerzes", also von sieben Faktoren, die das eigene Schmerzempfinden ­steuern: ­Neben dem simplen Reiz – heiße Herdplatte – sind es unter anderem: Wie bewerte ich den Schmerz? Wenn ich mir ein Tattoo stechen lasse, bewerte ich ihn anders als einen Unfallschmerz. Wie reagieren die anderen? Wie fühle ich mich gerade? Was weiß ich über meinen Körper? Wenn Menschen ihre Schmerzen zum Hauptthema ihres Lebens machen, geben sie ihnen einen sehr großen Wert. Das kann das Leiden schlimmstenfalls verlängern und verstärken.

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"Lebensbestimmend darf der Schmerz nicht werden", findet der Professor, "man sollte immer schauen, dass es auch andere schöne Dinge gibt im Leben. Freunde, ­Hob­bys, ein klassisches Konzert: Man muss dem Schmerz auch Raum wegnehmen." Jammern sei erlaubt, sagt er. "Aber wer immer nur jammert, wirkt auf andere jämmerlich."

Aber wie soll das gehen, schöne Dinge ge­nießen, wenn man fast täglich starke Schmerzen hat? Kann man üben. Göbel setzt dafür auf die Schwarmintelligenz ­seiner Patientinnen. Die haben sich in vielen Gruppen zusammengetan, im Netz findet man sie unter "Headbook", auf Facebook unter "Migräne Community". 9000 Headbook-User, 16 000 Facebook-Userinnen helfen sich gegenseitig bei medizinischen Fragen, aber erfreuen sich gegenseitig auch mit Fotos vom Sonnenuntergang am Strand, von bunten Herbstblättern oder Kastanien. "Abendgruß" heißt das Ritual.

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Gemanagt werden beide Communitys von der Patienten­betreuerin Bettina Frank. Eine resolute Frau, seit ihrer Kindheit Migräne, sie hat schon zwei erwachsene Kinder, die ebenso von der Krankheit geplagt sind. Das Treffen mit ihr fängt lustig an. Wir sind in der Kieler Förde in einem Ausflugslokal verabredet, Migränikerin mit Migränikerin. Ich 30 Minuten zu früh, typisch. Sie kommt zwar nur zehn Minuten zu spät, Stau auf der A210, aber ruft deshalb gleich zweimal an, um sich zu entschuldigen. Typisch.

Früher sprach man von einer "Migränepersönlichkeit" – überpünktlich, diszipliniert. Ganz große Spaßvögel haben daraus übrigens abgeleitet, Migränepatientinnen hätten vermutlich zu wenig Sex und müssten einfach mal ein bisschen lockerer werden. Bettina Frank hat sich ­darüber mit dem Esoterikguru Rüdiger Dahlke sogar mal im "Nachtcafé" vom SWR gefetzt. Dahlke hatte allen Ernstes behauptet, Migräne sei "ein Orgasmus im Kopf". Ziemlich dummes Zeug, wie man inzwischen weiß. Abgesehen davon, dass man im akuten Migräneanfall nur so mittel ­attraktiv ist (Stichwort: "jämmerlich") – die Dinge ver­halten sich eher andersrum: Wer jahrelang eine chronische Erkrankung hat, entwickelt Strategien, damit zu überleben. Lieber früher losgehen, lieber die Aufgaben ­einen Tag zu früh erledigen, lieber Reserve einplanen, falls ein Migräneanfall dazwischenkommt. Lieber pünktlich und regelmäßig essen und schlafen, damit der Stoffwechsel nicht durcheinanderkommt. Die Theorie von der Migränepersönlichkeit ist längst ad acta gelegt, Göbel hält sie übrigens für genauso übel und diskriminierend wie die Rassenforschung.

Solches Wissen tauscht auch die Migränecommunity untereinander aus. Wann soll man aufstehen, das Kind stillen, wie im Schichtdienst mit Migräne überleben? Was tun, wenn man in den Urlaub fliegt und die Zeitumstellung nicht verkraftet? Oder die Spritzen im Flugzeug nicht kühlen kann? Die Gruppe ist Gold wert, denn selbst Ärzte wissen oft so gut wie gar nichts über Migräne.

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Neulich auf der Chirurgie. Ich wollte vor einer Blinddarmoperation gern besprechen, wie ich Migräne verhindern könnte – verständnislose Blicke. "Wir haben hier Triptane, falls Sie Migräne bekommen." In der Migränegruppe von Bettina Frank fand ich die nötigen Tipps zur Vorsorge. Extra Infusion mit Glucose verlangen, keine Ibus wegen der Blutgerinnung, Kopfhörer gegen die schreiende Nachbarin. Bei "Vorerkrankungen" stand auf meinem Aufnahmebogen "keine". Migräne gilt halt nix.

Bettina Frank moderiert die Gruppe souverän. Sobald esoterische Tipps vom Wunderheiler kommen, wird gelöscht. Und wer übers Wetter jammert, wird von Frank stracks verwiesen: "Das Wetter können wir nicht ändern. Dafür haben wir unseren Jammerthread." Keine Frage, für die Migräne-Influencerin Phia Quantius wäre diese Facebook-Gruppe kein "Safe Space".

"Jammertanten brauchen wir gar nicht", findet Bettina Frank. Sie rät davon ab, die Kopfschmerzen zum Lebensthema zu machen. "Ich bin doch nicht nur Migränikerin. Ich bin Frau, Mutter, Geliebte, Staatsbürgerin." Sie glaubt, der Boom um Achtsamkeit und Meditation habe den Trend verstärkt, vermehrt um sich selbst zu kreisen. Und um seine Kopfschmerzen. Allerdings: Das Leugnen von uns älteren Migränikerinnen findet sie im Nachhinein auch falsch. Sie selbst traute sich beim ersten Klinikaufenthalt noch nicht mal, im Büro den wahren Grund zu sagen. "Ich dachte, die halten mich für bekloppt." Heute, im Jahr 2025, rät sie zu einer sachlichen Selbstauskunft. Beim Arbeit­geber wie beim Partner klar sagen: "Ja, ich habe Migräne. Das ist eine angeborene neurologische Erkrankung. Aber ich habe sie im Griff."

Im Griff – das ist natürlich wieder so ein Boomerwort. Das wollen viele junge Leute nicht. Sie wollen die Krankheit nicht "beherrschen", sondern verlangen Respekt für diesen Teil ihrer Persönlichkeit. Denn es sind ja nicht nur die ­Migräne und der Kopfschmerz, die neuerdings ­social-media- und talktauglich sind. Auch über ADHS und Depression, über Autismus und Hypersensibilität wird so viel gesprochen, dass man kaum noch mitkommt. ­Dinge, die bis gerade eben noch versteckt und ver­heimlicht ­wurden, sind plötzlich identitätsbildend. Gestern noch ­tabu – jetzt talk of the town. Ist das denn gut, empowernd, ein Fortschritt für unsere Gesellschaft? Gern hätte ich das mit Phia selber besprochen, aber auf Anfragen – über Insta­gram wie übers Tourmanagement – reagiert sie leider nicht.

Jüngere stehen eher zu Krankheiten

Wer den Gemütszustand der Deutschen verstehen will, trifft am besten Stephan Grünewald in Köln, der regelmäßig "Deutschland auf die Couch" legt. Grünewald leitet seit vielen Jahren das Rheingold-Institut, mit seinem rheinischen Singsang stellt er immer wieder der kollektiven Psyche von uns Deutschen eine Diagnose. Zu fast allem hat er schon geforscht, auch meine Anfrage zur Migräne findet er sofort interessant. Wir treffen uns in Köln beim Italiener, Blick auf den Dom.
Grünewald, Jahrgang 1960, ist nicht nur ­Psychologe, sondern auch mehrfacher Vater in einer Patchwork­familie. Er hat beobachtet: Junge Leute kehren sich von der erschöpften Betriebsamkeit ihrer Eltern ab, steigen aus dem Hamsterrad aus. "Auch weil sie gesehen haben, wie erschöpft wir Eltern bisweilen waren."

Die Generation unserer Kinder bekennt sich zu ihren psychischen Problemen und eben auch zu Schmerzkrankheiten. "Das ist ja erst mal ein Kulturfortschritt", lobt der Psychologe, "ein Schritt vom Dunkeln ins Helle."
Aber auch der Psychologe der Nation ist manchmal irri­tiert, wenn 20-Jährige so viel über ihr Leiden sprechen. "Das war früher der Generation 70plus vorbehalten. Da sprach man beim Wein nur noch über Krankheiten. Aber mit Mitte 20?" Er glaubt, dass die neue Empfindsamkeit auch eine Gegenreaktion gegen ein toxisches Männerbild ist, das diese Generation zu Recht ablehnt, den alten, ­weißen, gewalttätigen Mann.

Eigentlich klingt das alles sehr sympathisch. Empfindsam sein, ins Helle treten. Ein bisschen sei es, sagt Grünewald, wie bei den Leiden des jungen Werther. Als Goethe sein Stück schrieb, öffnete er in einer verknöcherten Welt viele Herzen. Allerdings: Nach Veröffentlichung des Stücks begingen viele junge Leute Suizid, der "Werther-Effekt". Manche, sagt Grünewald, hätten dann eben gar nicht mehr rausgefunden aus diesem Gefühl, ihr Schicksal sei unabwendbar.

Am liebsten würde man sie in den Arm nehmen und sagen: Come on, das Leben ist nicht nur krank, es ist auch ­komisch.

Wie wird es weitergehen mit den jungen Menschen, die jetzt die Öffentlichkeit suchen mit ihren Krankheiten und psychischen Problemen? Tragen sie dazu bei, dass unsere Gesellschaft offener wird und toleranter für alle, die ein bisschen anders sind? Das wäre wunderbar. Oder kreist jede, die über ihr Leiden postet, textet und filmt, nur noch um sich selbst? Und macht sie damit anderen umso mehr Angst, hindert sie daran, das Leben in all seinen Facetten zu genießen?

Zurück in die Kölner Kulturkirche. Die Show ist fast vorbei, Phia hat aus ihrem Buch vorgelesen, von verpassten Schulstunden, Festivals und Urlauben erzählt, durchaus mit Humor. Migräne, so ist man sich nach 90 Minuten in dieser Kirche einig, "ist ein Arschloch". Eigentlich, sagt Phia, hätte sie jetzt "krass Lust", den Begleithund unten in den Kirchenbänken zu kraulen, aber ein, zwei Fragen könne man noch stellen. Gleich bei der ersten fließen die Tränen. "Ich habe erst seit zwei Monaten Migräne", schluchzt eine junge Frau, "und voll Angst vor diesen Triptanen, dass ich da gar nicht drauf klarkomme. So wie du." Oje, hoffentlich ist das jetzt nicht der Werther-Effekt. Am liebsten würde man zu ihr hingehen, sie in den Arm nehmen und sagen: Come on, das Leben ist nicht nur krank, es ist auch ­komisch. Und übrigens, draußen ist es noch hell.

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