Kunst
Gute Nacht im U-Bahn-Schacht
Das Kunstkollektiv "Rocco und seine Brüder" bringt Kunst in den Alltag und öffnet den Tunnelblick
Gute Nacht im U-Bahn-Schacht
Rocco und seine Brüder/Norbert Schmidt
Pierre Jarawan
06.01.2025

Graffiti, graue Wände, große Stromkabel – mehr sieht man in U-Bahn-Schächten nicht, wenn man aus dem Fenster guckt. Im Februar 2016 allerdings dürften die Menschen in der Berliner U9 ihren ­Augen nicht getraut haben. Denn auf einmal fuhren sie an einem gemütlich eingerichteten ­Schlafzimmer vorbei und das mitten im Tunnel in einem kleinen Zwischen­raum! Dort standen Bett, Fernseher, Sessel und ­Zimmerpflanzen. Auf dem Boden lag ein Teppich, die Wände waren mit Tapete versehen und zwei ­Lampen beleuchteten die häusliche Szenerie. Handelte es sich um eine findige Werbung für ein Möbelhaus? Oder hatte ein Makler die Formulierung "gute Verkehrsanbindung" zu wörtlich genommen?

Nein, das Ganze war ein Kunstwerk von Rocco und seine Brüder: "Secret Bedroom Discovered".

Das Kunstkollektiv hat seinen Namen dem gleichnamigen italienischen Film entliehen. Rocco und seine Brüder kommen aus der Berliner Graffiti-Bewegung und machen sogenannte Urban Art, das sind ­künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum, meist illegal. Wer die Kunstschaffenden sind, ist nicht bekannt. In all ihren Videos sind die Akteure verpixelter als das Videospiel Pac-Man. Die Werke sind stets gesellschaftskritisch, provokant und kreativ.

Beispielsweise platzierten sie in einem U-Bahnhof ein leuchtendes Kreuz auf einem Geldautomaten und davor eine Gebetsbank. An der Wand waren sogar extra ­Halterungen mit brennenden Kerzen angebracht. Der Titel dieser Arbeit lautete "In God We Trust" – Kapitalismus als ­Ersatzreligion, Bündel statt Bibel. Diese Art Kunst im Alltag reißt uns für einen Moment die Scheuklappen herunter, mit denen wir sonst oft durch die Gegend ­laufen.

"Mein erstes Zimmer in einem Studenten­wohnheim hatte ähnlich viel Komfort"

Jakob Schwerdtfeger

Mit einem anderen Werk protestierten Rocco und seine Brüder gegen die steigenden Mietpreise in Berlin. Hierfür rissen sie Bodenplatten aus einer Straßenecke in Kreuzberg. Sie stellten dort Grablichter und einen Grabstein auf, mit der Inschrift "6,20 €/qm" – ein Begräbnis bezahlbaren Wohnraums. Auf dem dazugehörigen Trauerkranz stand "Räumung in Frieden" und "Wir werden dich vermieten".

Lesen Sie hier unsere Kolumne Wohnlage übers Bauen und Wohnen

Bei dem Schlafzimmer im U-Bahn-Tunnel geht es um ähnliche Themen wie Mangel an Wohnraum, Gentrifizierung und Obdachlosigkeit. Ein banales Zimmer wurde zu einem politischen Statement. Die Aktion sorgte medial für viel Aufruhr und wurde in etlichen Zeitungen ­besprochen, in die Zeitschrift "Schöner Wohnen" hat es das Kunstwerk aber leider nicht geschafft. Es gibt ein Making-of-Video, auf dem man den gesamten Einrichtungsprozess sehen kann. Bekleidet mit orangen Warnwesten ­schleppen Rocco und seine Brüder die Möbel an Ort und Stelle. Mich erinnert das Video an meinen Umzug nach dem Abitur, denn mein erstes Zimmer in einem Frankfurter Studenten­wohnheim hatte ähnlich viel Komfort wie das Schlafzimmer im U-Bahn-Schacht.

Schlussendlich entfernten die Berliner ­Verkehrsbetriebe die Möbel aus dem Tunnel. Damit war die Geschichte allerdings noch nicht vorbei, denn vier Jahre später tauchte an der­selben Stelle im U-Bahn-Tunnel ein neues Zimmer auf, dieses Mal jedoch ein Büro, inklusive Schreibtisch, Drucker und Computermonitor. Es sah aus, als könnte man dort ­direkt ein langweiliges Meeting abhalten. An der Wand des Büros hing ein CDU-Plakat, das sich gegen den Mieten­deckel richtete.

Ironischerweise musste die CDU selbst zu dieser Zeit wegen steigender Mieten aus ihrer eigenen Landeszentrale in Berlin ausziehen. Rocco und seine Brüder schufen mit dem Büro also ein hochaktuelles Kunstwerk. Selten kam Kritik am Wohnungsmarkt humorvoller daher. Kunst findet nicht nur im Museum statt, sie ist überall, auch an Orten, an denen wir sie nicht erwarten. Rocco und seine Brüder verändern unseren täglichen Tunnelblick.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.