Ein volles Amphitheater am Chautauqua Lake im US-Bundesstaat New York: Auf einmal erhebt sich ein Mann, rennt auf die Bühne und sticht mit einem Messer auf den Redner ein. Ganze 27 Sekunden dauert die Attacke, dann wird der Angreifer überwältigt. Der Redner war Salman Rushdie, das Attentat ereignete sich 2022.
Rushdie überlebte wie durch ein Wunder und hat nun ein Buch geschrieben, das "Knife", also Messer, heißt und den Untertitel trägt: "Gedanken nach einem Mordversuch". Doch es sind natürlich nicht irgendwelche Gedanken, die er sich macht. Es sind die Gedanken eines Mannes, der es vermag, nach dem Menschlichen in seinem Angreifer zu suchen. Und das, obwohl er über 30 Jahre mit der Angst vor einem Attentat leben musste und schließlich gehofft hatte, er könne diese Angst hinter sich lassen, und dann beinahe tödlich verletzt wurde. Der Mordaufruf des Ajatollah Chomeini vom 14. Februar 1989 hat Rushdies Leben verändert. Aber weder die Verfolgung noch das Attentat konnten Rushdie seinen Humanismus nehmen.
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1981 veröffentlichte Rushdie seinen Roman "Mitternachtskinder" und wurde weltbekannt. Damals wusste er noch nicht, dass sein vierter Roman, "Die Satanischen Verse", sein Schicksal bestimmen sollte. Am 14. Februar 1989 veröffentlichte der damalige iranische Ajatollah Chomeini eine Fatwa gegen Rushdie, also eine Art Gutachten des islamischen Rechts. Es war ein Aufruf zum Mord.
Der Ajatollah nahm Anstoß daran, dass in den "Satanischen Versen" angeblich Mohammed und der Koran beleidigt werden. Manche Beobachter halten diese Gründe allerdings für vorgeschoben und sehen die Fatwa als politisch motiviert an. Durch die weltweite politische Krise, die aufgrund der Fatwa entstand, und die Aufmerksamkeit, die sie bekam, konnte Khomeini von seiner innen- und außenpolitischen Schwäche ablenken und sich als muslimischer Führer über die Grenzen des Iran hinaus profilieren. Die Fatwa - und was darauf folgte - ist ein Symbol dafür, wie gefährlich Religion sein kann.
Mit seinem neuen Buch setzt Rushdie nun sozusagen ein Gegensymbol: Es zeigt, wie gefährlich ein Schriftsteller sein kann für fundamentalistische Vertreter egal welcher Religion. Das Buch zeigt, dass Meinungsfreiheit und Liebe zum Menschen, die "Waffen" des Schriftstellers Rushdie, dem Fundamentalismus widerstehen.
Rushdie lebte jahrelang unter Polizeischutz und musste regelmäßig seine Wohnung wechseln. Doch irgendwann wollte er sich nicht mehr von den Drohungen beeindrucken lassen und begann, wieder öffentlich aufzutreten und ein normaleres Leben zu führen. Auch wenn Rushdie viele gefeierte Romane geschrieben hat, die "Satanischen Verse" und sein Umgang mit der Verfolgung ließen ihn nicht los. Er wurde so zu einem lebenden Symbol für Meinungsfreiheit, über die er auch immer wieder öffentlich sprach.
Auch jetzt noch, nach dem Messerangriff auf ihn, redet er voller Witz und Liebe über sein Leben und sogar über das Leben des Angreifers. Während Fundamentalisten nur ihren Gott lieben, also einer letztlich selbstgemachten Wahrheit hinterherrennen, schafft es gute Literatur - und somit auch Rushdie - die Menschen in all ihrer Widersprüchlichkeit liebevoll zu betrachten. Menschen sind nicht eindeutig, sie sind oft falsch und oft auch unerträglich, aber weil wir selbst so sind, bringt es nichts, sie zu verachten. Auf Hass nicht mit Hass zu reagieren, sondern weiterhin nach dem Menschlichen zu suchen, das vermag Rushdie auch in seinen "Gedanken nach einem Mordversuch".
Salman Rushdie litt darunter, dass sein Werk von Kritikern häufig auf die "Satanischen Verse" und das Thema Meinungsfreiheit reduziert wurde. Weil seine anderen Bücher dadurch immer schon in einen Rahmen gestellt wurden. Der Anschlag, sein Überleben und die Art, wie er nun in seinem neuen Buch "Knife" darüber schreibt, zeigen allerdings, dass dieses Thema keinen besseren Fürsprecher haben könnte.
Rushdie erzählt im Buch detailliert, was die vielen Messerstiche mit ihm und seinem Körper gemacht haben. Die Schilderungen der körperlichen Schmerzen sind mitunter schwer zu ertragen. Aber Rushdie schreibt eben auch in seiner einmaligen Art über den Attentäter, den er im Buch nur A. nennt - A wie Arschloch. Er will die bekannte Beleidigung nicht so oft wiederholen. Und erzählt davon, wie die Liebe zu seiner Frau Eliza ihn wieder aufgerichtet hat. Es ist ein Buch über ein hasserfülltes Attentat, das trotzdem voller Liebe ist.