chrismon-Serie "Tonspuren"
Ihr wichtigstes Lied
Wie kann man Musik sichtbar machen? Das zeigen die Fotografen Anna-Kristina Bauer und Andreas Graf in der chrismon-Serie "Tonspuren"
Berhan und Alexander, eritreische Christen aus Hannoversch Münden, beim Fototermin an der Fulda
Sie musizieren gern gemeinsam: Berhan und Alexander, eritreische Christen aus Hannoversch Münden, beim Fototermin an der Fulda
Anna-Kristina Bauer und Andreas Graf
Tim Wegner
22.03.2024
5Min

chrismon: Sie haben Menschen porträtiert, die einen ­besonderen Bezug zu einem spirituellen Lied haben, und daraus die Ausstellung "Musik aus Tagebüchern" ­gestaltet. Haben auch Sie ein Lied, mit dem Sie be­sonders verbunden sind?

Andreas Graf: Ich verbinde ganz verschiedene Lieder mit Erinnerungen oder Lebensphasen, aber kein religiöses.
Anna-Kristina Bauer: Das geht mir auch so. Reinhard Mey spielt für meine Eltern eine Rolle. Für mich sind seine Lieder Kindheitsmusik, die Emotionen und Erinnerungen auslöst.

Roman Pawlowski

Andreas Graf

Andreas Graf studierte Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover und schloss 2017 als Bachelor of Arts ab. Er lebt in Hannover und arbeitet er seit 2013 als freiberuflicher Fotograf
privat

Anna-Kristina Bauer

Anna-Kristina Bauer (geb. 1987 in Erlangen). Zwischen 2008- 2016 studiert sie an der Hochschule Hannover Fotojournalismus und Dokumentarfotografie. Sie ist Fotografin und Multimedia-Producerin. 2016 gewann sie zum zweiten Mal den Canon Profifoto-Förderpreise und 2012 den Grimme Online-Award für "berlinfolgen". Anna-Kristina Bauer beschäftigt sich in ihren Bilder mit dem Suchen und Finden der eigenen Identität und dem Schwebezustand zwischen jugendlichem Leichtsinn und verantwortungsfordernder Realität des Erwachsenseins.

Hören Sie die Lieder gern?

Bauer: Ja. Aber es geht nicht um Lieblingslieder. Sondern darum, zu welchen Liedern man eine Verbindung hat.
Graf: Wenn wir die Leute getroffen haben, haben wir ­immer zuerst das Lied angehört. Ab da kommt man aus dem Fragen nicht mehr raus.

Wie entstand die Idee zu der Porträtreihe?

Bauer: Die Veranstalterinnen von Vision Kirchenmusik haben uns für eine Ausstellung zu dem Thema bei den Weserfestspielen angefragt. Zuerst haben wir lange gehadert. Das Thema abstrakt umzusetzen, erschien uns zu steif. Das war die Frage: Wie kann man Musik sichtbar machen?

Und wie haben Sie das gelöst?

Bauer: Es geht nur über Umwege. Deswegen haben wir uns dafür entschieden, Lebensgeschichten zu erzählen. Und fotografisch für ruhige, fokussierte Porträts, die wir in der Umgebung der Protagonisten aufgenommen haben. In dem Moment geht es nicht mehr um die Instrumente, sondern um den Menschen. In der Ausstellung saß man in der Kirchenbank mit etwa einem Meter Abstand dem Porträt gegenüber. So konnte man eine Verbindung zu dem Menschen aufbauen, dessen Geschichte und Lied man über einen Kopfhörer erfuhr. Wir haben analog foto­grafiert mit Fachkameras in der Art, wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts verwendet wurden. Das ist aufwendig und im Material kostspieliger als Digitalfotografie, aber birgt eine Chance: Man konzentriert sich deshalb besonders.
Graf: Mit einer ruhigen Arbeitsweise: Es dauert, bis aufgebaut ist, alles muss stimmen. Man macht wenige Aufnahmen und je nach Lichtverhältnis müssen die Modelle stillhalten. Man muss als Modell und Fotograf zusammenarbeiten. Die Aufmerksamkeit und Zeit geben den Menschen Wertschätzung.

"Es braucht keinen Rhythmus, keine Melodie, nur Gefühl"

Andreas Graf

Welche Geschichte berührt Sie besonders?

Graf: Das Abgefahrene war, dass wir im Aufruf über das Haus der Religionen und bei verschiedenen religiösen Gemeinden gar nicht nach Geschichten gefragt haben, ­sondern nach der Musik. Daraufhin kamen diese Geschichten! Alle tragisch, aber mit einer positiven Wendung durch die Musik.
Bauer: Arno, der plötzlich erzählte, dass ­seine Tochter bei einem Autounfall gestorben ist. Das hatte er im Vorgespräch nicht erwähnt! Zara, die uns von ihrer Zwangsehe erzählte. Das war emotional. Für mich ­besonders, weil auch wir in einer Art Ausnahmezustand waren. Unsere Tochter war ein paar Monate alt und immer dabei. Sie wurde von allen herzlich empfangen.

Arno und seine Frau Kathrin musizieren beide. Der Foto­termin unten fand in der Nähe des Ortes statt, wo die ­gemeinsame Tochter mit dem Auto verunglückte

Haben die Geschichten Ihren Blick auf die Kirchenmusik verändert?

Graf: Sie haben mir vor Augen geführt, wie viel Kraft Musik haben kann. Sie kann Orte für Erinnerungen oder Gefühle schaffen.
Bauer: Zum Beispiel war da Sergej, ein jüdischer Russe. Er hatte eine ganz kleine Wohnung und, obwohl er Kom­ponist war, nur ein Plastik-Keyboard. Aber als er anfing, zu spielen und zu singen, hat er uns sofort mitgerissen.
Graf: Auf einmal war er schelmisch, wie ein kleiner Junge.

Alle Beiträge aus der Reihe "Tonspuren" können Sie hier anhören.

Gab es ein Lied, das Sie besonders abgeholt hat?

Bauer: Das Lied von Aryani. Sie ist eine spannende, ­schöne Frau, eine magische Erscheinung. Ihre Religion hat auf­Bali Tradition. Sie war die Einzige, die nicht selbst vortrug, sie tanzte – das waren überirdische Klänge. Ich konnte mich in ihre Welt und Kindheitserinnerungen einfühlen.

Was war magisch?

Bauer: Das ging schon so los: Unsere Tochter heißt Lila und Aryani sagte: "Da mache ich euch lila Tee." Dann hat sie gezaubert mit Wurzeln und Blüten. Sie hat uns Tee in einer durchsichtigen Karaffe aufgebrüht. Am Ende gab sie Zitronensaft dazu und das Getränk wurde lila.

Was haben Sie für sich persönlich mitgenommen?

Graf: Alle sind so offen mit ihren Geschichten ­umgegangen, das hat mich berührt und ich habe verstanden, wie hilfreich und wichtig das ist. Manchmal war es "nur" ein ­Gebet, aber so emotional vorgetragen, dass es Musik war. Es braucht keinen Rhythmus, keine große Melodie, einfach nur Gefühl. Vielleicht ist es gut, manchmal laut zu sein – nicht im Sinne von Schreien. Sondern nicht immer alles im stillen Kämmerlein mit sich auszumachen und stattdessen Sachen rauszusingen oder zu spielen und so mit anderen zu teilen. Das hatte ich geahnt, aber es bei anderen Menschen zu sehen, das empowert.

Es empowert . . . und macht auch etwas neidisch?

Graf: Eher dankbar. Ich bezweifle, ob ich so etwas so offen hätte teilen können.
Bauer: Ich würde gern tanzen können wie Aryani und durch Musik diesen Bewusstseinszustand erreichen. Aber sie hat das von klein auf begleitet. Sie erzählt von ihren Kindheitserinnerungen und trägt über fünfzig Jahre hinweg diesen Rhythmus und diese Musik mit sich, ihr ­ganzes Leben. Das ist inspirierend.

Was haben Ihnen die Gespräche über Musik und Glauben verraten?

Bauer: Dass Musik ein Ankerpunkt sein kann. Durch ­Musik kann man Erlebtes verarbeiten. Dann war da Amadou: Er ist Murid, eine muslimische Glaubensrichtung im Senegal, dort gibt es ein kraftvolles Miteinander in der Musik, um auf eine andere Bewusstseinsebene und näher zu Gott zu gehen und sich in Ekstase zu versetzen. Das ist weit entfernt von unseren Traditionen: Wenn wir in der Kirche sind, wird eher genuschelt. Die Leute trauen sich nicht zu singen. Es hat bei uns nicht so einen ­Stellenwert und geht noch mehr zurück. Wir können uns in unserer Kultur vielleicht nicht so frei machen.
Graf: Mir ist besonders eines als Fazit geblieben: Es gibt ­keine Unterschiede, wenn es um Musik geht. Der ­Charakter, die Religion, die Kultur mag sich ­unterscheiden, aber die Musik war das verbindende Element, da haben alle die gleichen Gefühle beschrieben.

Ausstellung bei den ­Weserfestspielen 2022, ­Marienkirche Gimte: die Porträtierten im Bild, dazu Musik und Geschichte zum Hören
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