Heute ist der 11. Oktober, der Angriff der Hamas ist fünf Tage her. In den ersten Tagen hörte man in Jerusalem fast ununterbrochen heftige Detonationen und Sirenen. Auch jetzt sind die Detonationen noch so heftig, dass die Fensterscheiben vibrieren.
Ansonsten ist es sehr still in der Stadt, die Schulen, Museen und andere öffentliche Einrichtungen sind geschlossen. Die meisten Menschen verlassen aus Angst vor weiteren Raketenangriffen die Wohnung nur für dringende Angelegenheiten und zum Einkaufen. Aber viele Geschäfte, besonders auch in der Altstadt, sind zu. Die Supermärkte sind fast leer gekauft, weil alle ihre Vorräte aufstocken für den Fall, dass der Kriegszustand länger dauert. Viele machen sich Sorgen um Angehörige und vor der ungewissen Zukunft. Auch für die Patienten und Mitarbeitenden des Auguste-Victoria-Krankenhauses (AVH) ist das sehr belastend.
Sieglinde Weinbrenner
Das Krankenhaus liegt auf dem Ölberg in Ostjerusalem und wird vom Lutherischen Weltbund betrieben. Es ist die einzige Klinik, in der die etwa fünf Millionen Palästinenser und Palästinenserinnen aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland Strahlentherapie bekommen können, wenn sie an Krebs erkrankt sind. Als einziges palästinensisches Krankenhaus verfügt das AVH zudem über eine Kinderdialysestation.
Wir versuchen, den Betrieb aufrechtzuerhalten, haben Medikamente und Lebensmittel aufgestockt. Aber es ist sehr schwierig für Patienten und Mitarbeitende, nach Jerusalem zu kommen. Wir haben Busse organisiert, die zu den Checkpoints in den Norden in die Nähe von Ramallah und in den Süden in die Nähe von Bethlehem fahren, um Mitarbeitende und Patienten aus dem Westjordanland aufzunehmen. Doch aufgrund von Straßensperrungen und temporären Kontrollpunkten zwischen den Dörfern können nicht alle die Sammelpunkte erreichen. Gestern konnten 27 Patienten aus dem Westjordanland nicht kommen, deren Behandlung eingeplant war. 109 Patienten und Patientinnen aus Gaza, die diese und nächste Woche zur Chemotherapie bestellt waren, können nicht kommen. 36 Kranke verpassen ihre Strahlentherapie.
Die Angst greift um sich
Die Pflegekräfte und Ärzte arbeiten in Schichten, um mit weniger Personal die Versorgung zu sichern. Mitarbeitende aus anderen Ostjerusalemer Krankenhäusern helfen sich gegenseitig aus. Die Ärzte und Pflegekräfte, die nicht mehr nach Hause ins Westjordanland zurückkönnen, übernachten in Wohnheimen unseres Krankenhauses. Patienten aus Gaza, die ihre Behandlung abgeschlossen haben, und ihre Angehörigen, die sie nach Ostjerusalem begleitet haben, können nicht nach Gaza zurück und wurden im Hotel auf dem Ölberg untergebracht.
Eine Brustkrebspatientin hat die Nachricht bekommen, dass ihr Haus bombardiert wurde und ihre Cousine und zwei von deren Kindern getötet wurden. Für sie und viele andere Patienten ist es schwer auszuhalten, in so einer Situation nicht bei der Familie sein zu können. Viele Palästinenser in Jerusalem haben auch Angst vor Angriffen jüdischer Siedler. Israelis haben Angst vor Angriffen von militanten Palästinensern. Die Leidtragende des militärischen Konflikts zwischen der Hamas und Israel ist die Bevölkerung auf beiden Seiten.
Das Auguste-Victoria-Hospital war gerade dabei, in Gaza ein Diagnostikzentrum für Krebs einzurichten, weil die Patienten häufig mit einer falschen Diagnose oder zu spät nach Ostjerusalem kommen. Es fehlt an entsprechender Ausstattung und an Kapazitäten. Die Kollegen und Kolleginnen in Ostjerusalem stehen jetzt in ständigem Kontakt mit den Mitarbeitenden in Gaza. Das Ahli-Arab-Krankenhaus ist ein altes Missionskrankenhaus und liegt im Stadtzentrum von Gaza, in Al Rimal, einer schönen Gegend. Das Gebiet wurde letzte Nacht bombardiert, und auch die Klinik wurde beschädigt. Die Umgebung wurde völlig zerstört, und es ist schwierig, mit einer Ambulanz überhaupt zum Krankenhaus vorzudringen.
Wir vom Lutherischen Weltbund bitten deshalb alle politischen Entscheidungsträger, dass ein humanitärer Korridor eröffnet wird, um Verletzte behandeln zu können und Zugang zu lebenswichtigen Gütern und Medikamenten zu ermöglichen. Auch sollten Zivilisten und die zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen geschützt werden. Wir hoffen, dass die Zivilbevölkerung weiter mit Wasser und Strom versorgt wird – auch, um der Ausbreitung von Seuchen vorzubeugen.