Hans-Ullrich Krause ist einer dieser Menschen, die eigentlich drei Leben bräuchten. Schon oft war er deswegen im Zwiespalt. Es fehlte an Zeit für Sachen, die ihm am Herzen lagen, doch wollte er keine andere dafür aufgeben. Nicht seine Arbeit als Leiter des Kinderhauses Berlin. Nicht seine Lehre und Forschung an Hochschulen als promovierter Sozialpädagoge. Auch nicht das Schreiben von Drehbüchern, in denen er Themen aus seinem Arbeitsalltag aufgreift.
Für sein Drehbuch zum Film "Der Fall Bruckner" erhielt er 2015 den Grimme-Preis. Anfang Oktober wird ihm für "Kalt" der Robert Geisendörfer Preis von der evangelischen Kirche verliehen.
Hans-Ullrich Krause
2003 nahm er einen Anlauf, doch mal etwas aufzuhören. "Ich wollte unbedingt eine Professur", sagt er heute mit 69 Jahren. Es ist Ende August, Krauses beinah graues Haar fällt auf ein dunkelblaues Leinenhemd mit schimmernden Knöpfen aus Perlmutt. Das Ziffernblatt seiner Smartwatch leuchtet im Dauerzustand. Krause liebte Wissenschaft. Vier Mal hatte er in seinem Leben studiert: erst Heimerziehung in Berlin, dann Literatur in Leipzig, wo er auch aufgewachsen ist, anschließend Pädagogik und später noch psychosoziale Arbeit in Berlin. Die Unterlagen für die Professur hatte er bereits bei der Hochschule abgegeben, auch der erste Arbeitstag stand schon fest.
Aus der Arbeit kommen die Stoffe und der Blick in die Lebenswelten
"Dann kam auf dem Parkplatz des Kinderhauses ein Mädchen auf mich zugerannt, das fast gar nicht gesprochen hat", erzählt er, sie war noch kein Jahr im Kinderhaus. "Sie sagte: Herr Krause, Herr Krause, ich habe heute in Deutsch ein Gedicht vorgetragen und hab dafür ’ne Zwei gekriegt." Drehte sich um und rannte weg. "Die hat sich so gefreut, dass sie durch Sprache eine solche Anerkennung bekommen hat, dass sie das sogar mir mitteilen musste", sagt er mit Staunen in der Stimme. "Da hab ich gedacht: So was Tolles erlebst du nur hier." Und so holte Krause seine Unterlagen wieder ab.
20 Jahre später scheint er seine Work-Work-Balance etwas besser austariert zu haben. Für den Kinderhausverein arbeitet er immer noch, mit ihm mehr als 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Oft kommen die Kinder schon als Baby in eines dieser Häuser und wachsen dort auf – wenn möglich in engem Kontakt mit den Eltern oder Großeltern. Krauses Schreibtisch steht im Haupthaus in Berlin, einem ehemaligen DDR-Heim mit Freizeitclub und Sporthalle in Alt-Hohenschönhausen. Seine Arbeit hat er auf eine halbe Stelle reduziert, damit er auch an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin eine halbe Stelle antreten kann. Daneben setzt er sich für Kinderrechte ein, schreibt an Gesetzen mit und ist Vorsitzender des größten Fachverbands für Heimerziehung, der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen. Am Abend, am Wochenende und im Urlaub arbeitet er an seinen Drehbüchern. Elf sind es bisher.
Dafür notiert er sich zwischendurch Gedanken und spricht Dialoge ins Handy. "Es würde nicht gehen, wenn sich die Bereiche nicht gegenseitig befruchten würden", sagt er. Aus der Arbeit kommen die Stoffe und der Blick in die Lebenswelten, aus der Wissenschaft der analytische Blick und die Ideen, wie es besser gehen könnte.
Gute Konzepte und Methoden sammelt er viele, er ist ja gut vernetzt. Über allen steht das Prinzip, dass Kinder als gleichberechtigt begriffen werden. "Sie gestalten hier genauso mit wie die Erwachsenen", sagt Krause. Das wichtigste Instrument ist der Sprecherrat, der aus Kindern und Jugendlichen im Alter von 10 bis 19 Jahren besteht. Ihn gibt es etwa so lange, wie es das Kinderhaus gibt.
"Ich habe den Erzieherinnen gesagt: Das ist Beschluss und zu akzeptieren"
Klingt fast ein bisschen zu toll, als dass man es glauben möchte. Doch Krause mangelt es nicht an Beispielen. Als er das ehemalige DDR-Heim übernahm, waren die Kinder kasernenartig untergebracht. "Die Zwölfjährigen bildeten die Gruppe 12, die 13-Jährigen die Gruppe 13 und so weiter." Auch Geschwister waren somit getrennt. "Der Sprecherrat hat dann beschlossen, dass die Strukturen aufgelöst werden", erzählt er. Gleich am Abend nahmen die ersten Kinder ihr Bettzeug und wollten in andere Wohngruppen einziehen. "Ich habe den Erzieherinnen gesagt: Das ist Beschluss und zu akzeptieren", erzählt er und ein Lächeln breitet sich über sein ganzes Gesicht aus. "Das waren revolutionäre Zustände damals."
Einmal, vor etwa 20 Jahren im Dezember, entschied der Sprecherrat, dass ein Jugendlicher die Einrichtung verlassen müsse. Er war 15 oder 16, hatte ein Mädchen festgehalten und gedroht, sie umzubringen. "Eine dramatische Situation, die nicht mit den üblichen Kabbeleien zu vergleichen war." Statt zum Notdienst zu gehen, zog der Jugendliche in einen verlassenen Bauwohnwagen 300 Meter weiter. "Abends sah man, wie der Ofen geheizt wurde", erzählt Krause. Eine Woche später kam der Junge in sein Büro und sagte, dass er gern wieder einziehen würde, er habe es verstanden. Doch sein Antrag musste erst durch den Sprecherrat – und der lehnte ab. Ein weiterer Versuch des Jungen scheiterte. "Kurz vor Weihnachten hat der Sprecherrat dann entschieden: Er darf wieder einziehen, aber er muss Reue zeigen", erzählt Krause und lächelt.
Urlaub an der Ostsee
Die Kinder im Sprecherrat verfügen auch über das Spendengeld – immerhin mehrere Tausend Euro im Jahr. Sie entscheiden etwa über Zuschüsse für Laptops, Fahrräder und Musikinstrumente, die sich Kinder wünschen und schriftlich beantragen müssen.
Die Wohngruppe Löwenzahn, in der 10 Kinder bis 17 Jahre leben, hat Urlaub in einem Appartement an der Ostsee mit lauter Hängematten gemacht. Auf Krauses To-do-Liste steht ein kurzer Besuch bei ihnen. "Wie war es denn, würdet ihr es anderen Gruppen weiterempfehlen?", fragt Krause in die Runde. Viele Jas, kein Nein. Die Kinder erzählen aufgeregt von Zwei-Euro-Stücken, Kronkorken und Heringen, die sie mit einem Metalldetektor am Strand gefunden haben, vom Tanz im Regen, Meerjungfrau- schwimmen in der Ostsee und Werwolfspielen am Abend.
Als Herr Krause schon beim nächsten Termin ist, tragen die Kinder zusammen, was sie von ihm wissen. "Wenn man ihn auf dem Hof trifft, fragt er einen, wie es in der Schule geht", erzählt ein Mädchen. "Ist er nicht so was wie ein Doktor?", fragt ein anderes. Dass ihr Herr Krause auch Filme macht, wissen sie. Von dem Film "Kalt" haben sie noch nicht gehört. "Ab wann darf man ihn schauen?" Der Film ist ab zwölf und spielt in einer Kita. Drei Erzieherinnen gehen mit einer Gruppe von 17 Kindern raus in die Natur, doch am Grillplatz fällt auf, dass ein Junge und ein Mädchen fehlen. Die Erzieherin Kathleen Selchow rennt los und findet die beiden Kinder im Unterholz eines eiskalten Flusses. Der Junge ist bereits tot, das Mädchen wird auf die Intensivstation gebracht.
"Kinder sind Menschen, die frei sein wollen"
Während Selchow sich fragt, welchen Anteil sie an dem Unglück trägt, ist die Schuldfrage für die meisten in ihrer Umgebung schon beantwortet. Von den einen wird sie geschnitten, von den anderen beschuldigt. Erst später kommt bei Selchow die Erinnerung zurück, dass sie am Handy telefoniert hat und kurz abgelenkt war. Aber soll sie ihren Fehler zugeben und riskieren, wegen fahrlässiger Tötung ins Gefängnis zu gehen? Sie kämpft mit ihrem Gewissen – und mit ihr jeder, der den Film schaut. Was würde ich tun?
Nicht nur der Umgang mit Schuld interessierte Hans-Ullrich Krause bei diesem Fall, auch die Frage: Wie sehr muss man Kinder behüten? "Kinder sind Menschen, die frei sein wollen." Sie wollen auch mal auf einen Baum klettern und etwas machen, was nicht unproblematisch ist. "Bei diesem Film habe ich sehr von meinem zusätzlichen Wissen aus der Hochschule profitiert", sagt er. Das Problem der Gesellschaft sei: Überall sind Hinweisschilder und Warnbarken und die Leute denken, da kümmert sich schon jemand drum. "Dadurch verlernen wir, achtsam zu sein und Gefahren mitzudenken." Vorschriften wie regelmäßiges Durchzählen können dabei eine falsche Sicherheit vermitteln.
Für die Kinder im Film wurde all das zum Verhängnis. Sie erkannten nicht, wie gefährlich ein eiskalter Fluss mit Strömung sein kann. "Sie haben einfach wild drauflos gehandelt und das ist ein Problem." Doch es gehöre leider zum Leben dazu, dass es auch Unglücke geben kann und Menschen eine Mitschuld tragen. "Das soll aber nicht dazu führen, dass wir Kinder noch mehr einengen und bevormunden", sagt Krause. Kinder müssen ihre Erfahrungen machen. Das gehört zu einer gesunden Entwicklung dazu.
Krause schaut auf sein dauerleuchtendes Ziffernblatt: Seit acht Minuten hat er den nächsten Termin. Ein neuer Film steht an, über Dietrich Bonhoeffer, und zu einer Klausur muss er auch bald. Über Pflegefamilien, gute Orte für Kinder und Fachkräftemangel. Man wollte ihn grade nach seiner Freizeitbeschäftigung fragen, aber – Freizeit? Er versteht die Frage nicht.
Robert-Geisendörfer-Preis
Hans-Ullrich Krause bekommt den Robert-Geisendörfer-Preis am 4. Oktober 2023. Ab diesem Tag stehen auch alle weiteren Prämierten auf www.geisendoerferpreis.de