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Das eigene Leben belauschen
Manchmal begeistern einen gar nicht die großen Werke der Weltliteratur in ihrer einschüchternden Ganzheit, sondern nur die eine oder andere „Stelle“ darin, die man schön findet und die einem im Gedächtnis bleibt, wenn man alles andere schon längst vergessen hat. Ich habe es gerade bei der Lektüre eines Romans von Wilhelm Genazino so erlebt.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
18.08.2023

Ich hatte einen Kollegen, der viel belesener ist als ich, gefragt, was ich denn zum Einstieg von Wilhelm Genazino lesen sollte. Seine Romane gelten als gar nicht mehr geheimer Geheimtipp und werden von Menschen, deren Urteil ich vertraue, hochgeschätzt. Nur ich war einfach nie dazu gekommen.

Der Kollege empfahl mir „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ (2003). Ich kaufe mir also gehorsam das Taschenbuch und beginne zu lesen. Aber da ist nichts, was mich erreicht. Die Geschichte (wenn man von einer Geschichte sprechen kann) finde ich langweilig. Der Protagonist wirkt auf mich unsympathisch und uninteressant. Die Sprache erscheint mir als flach, erweckt dabei den Eindruck, genau das sein zu sollen. Und dann wird erzählt, dass eine junge Frau, die der junge Protagonist irgendwie liebt (oder auch nicht) Suizid begeht – aber so beiläufig und desinteressiert, dass es mich ärgert.

Da will ich den Roman, so schmal er war, nicht weiterlesen. Aber in diesem Moment stoße ich auf eine sehr schöne Stelle.

Der junge Mann sitzt am Ufer eines Flusses und sieht einen Vergnügungsdampfer vorbeifahren. Dabei geht ihm eine besondere Schönheit auf: die Wellen, die Fähnchen, die Bewegung, vor allem die Stimmung der Passagiere verzaubern ihn. Sie winken ihm zu und er winkt zurück. Und jetzt Genazino:

„Die Schönheit war eine Art Gemeinschaftswerk der Passagiere. Sie entstieg der ruhigen Freude derer, die ohne Eile ihre Zeit vergeudeten. Ich winkte den Fahrgästen immer noch, jetzt mit dem Entzücken von jemand, der über die Gründe der Schönheit gut Bescheid zu wissen schien. Als das Schiff schon fast vorüberzogen war, sprang der Wunsch nach souveräner Zeitverschwendung auf mein eigenes Empfinden über. Ich hatte ein inneres Erlebnis, für das ich keine Worte hatte. Die Eingebung war stark, weil sie zum richtigen Zeitpunkt eintraf: Ich durfte mich zu meinem Leben als ein Lauschender verhalten. Ich durfte so lange in die Wirklichkeit hineinhören und hineinsehen, wie ich nur wollte. Beim Belauschen der Dinge und Erscheinungen wurde ich nicht hochmütig.“

Kann es eine schönere, sommerlichere „Stelle“ geben? Allen, die dies hier lesen, wünsche ich die Schönheit souveräner Zeitverschwendung.

P.S.: Beim Deutschlandfunk kann man eine neue Sendung zum Thema "Narzissmus und Kirche" nachhören, bei ich mitmachen durfte.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur