So viel Aufbruch, so kreativ!
Pfarrer Martin Golz (r.), Diakonin Michaela Herrmann (2. v. l.) und Jennifer Möbius (mittig) vom Team "Man sieht sich"
Charlotte Sattler
chrismon-Gemeindewettbewerb
So viel Aufbruch, so kreativ!
Das Plattenbauviertel Halle-Silberhöhe hat keine Kirche, aber das Bauwagenprojekt "Man sieht sich." Hier ist Kirche ganz groß, weil sie sich ganz kleinmacht. Das liegt an den Menschen
16.06.2023
9Min

Zum 7. Mal hat das Magazin chrismon 2023 den Förderwettbewerb "chrismon Gemeinde" ausgerufen. 174 Kirchengemeinden haben sich mit spannenden und kreativen Projekten ­beteiligt. Unterstützt von den Sponsoren KD-Bank, Gustav-Adolf-Werk und "Gemeindebrief" wurden auf zwei Wegen Preise im Wert von insgesamt 20 000 Euro vergeben. Bei der Onlineabstimmung für die ­Publikumspreise wurden 580 000 Stimmen abgegeben. Die Jury vergab sechs Preise zu je 2000 Euro in sechs Kategorien. Am 4. Juni fand in der Gemeinde Mariendorf-Süd in Berlin die Preisverleihung statt. Hier geht's zur Bildergalerie!

Die Bewerbungen zeigen, wie kreativ viele Kirchengemeinden in Städten und auf dem Land unterwegs sind. Sie versuchen auf beeindruckende Weise und durchaus erfolgreich, für ihre Mitmenschen da zu sein: Sie stellen sich mit Wohnmobilen auf Marktplätze und ermöglichen Gemeinschaft und Austausch; sie denken sich Angebote für junge ­Leute aus, locken mit musikalischen Events und organisieren Spendenaktionen für bedürftige Menschen überall auf der Welt. Die chrismon-Redaktion, die Juroren und Jurorinnen und die Spender fordern die Christen und Christinnen in diesem Land frohen Mutes auf: Macht weiter so!

1. Publikumspreis und Jurypreis in der Kategorie Diakonie

Kirchspiel Halle-Süd: Bauwagenprojekt "Sehen und gesehen werden"

Vor den Plattenbauten in der Silber­höhe wirkt der bemalte Bauwagen wie ein Ufo. Und ein bisschen wie Außerirdische wurden Pfarrer ­Martin Golz vom Kirchspiel Halle Süd und Michaela Herrmann von der Evangelischen Stadtmission Halle wohl auch beäugt, als sie ihn im September 2019 mit einem ­Trecker auf die Wiese neben dem Spielplatz ziehen ließen, um ihn den Menschen im ­Viertel zu schenken. Sofort liefen Kinder und Eltern herbei. Golz fragte: "Was machen wir damit?" Und bekam zu hören: "Der steht keine Woche hier, ohne dass er abgefackelt wird."

Mittwochs und freitags ab 15 Uhr steht der Bauwagen allen offen

Der Bauwagen steht noch und ist jeden Mittwoch und Freitag offen für alle, die Gemeinschaft suchen. Dass er von der Kirche ist, sieht man auf den ersten Blick nicht. "Ich komme immer, wenn Bauwagen ist, um hier mit meinen Freundinnen zu chillen oder ­Inlineskates zu fahren", sagt eine 12-Jährige, die erst Afghanisch in Afghanistan, dann Türkisch in der Türkei und schließlich Deutsch in vier verschiedenen Bundesländern gelernt hat. Zusammen mit ihren zwei Türkisch ­sprechenden Freundinnen sitzt sie am Tisch, trägt als Einzige Kopftuch und greift wie alle in der Runde nach Apfelschnitzen und Käse­stullen, die zwei Mitarbeiterinnen für sie vorbereiten. "Ich schwänze öfter die letzte Stunde, um pünktlich um 15 Uhr da zu sein", gibt sie zu und lacht. Auch eine ihrer Freundinnen hat eine Stunde ausfallen lassen. Bei der anderen ist der Unterricht ganz von selbst ausgefallen.

Martin Golz, 36 Jahre, hatte vor viereinhalb Jahren gerade seine erste Pfarrstelle angetreten. Zu seinem Gemeindegebiet gehörte auch die Silberhöhe mit mehr als 12 000 Einwohnern. "Damals brannte es fast wöchentlich in der Kleingartenanlage um die Ecke", erzählt er. Langeweile und Alkohol reichten einigen Jugendlichen als Grund. Noch heute müsse die Polizei regelmäßig wegen Bandenkriminalität, Gewalt oder Drogen in den Schulen in der Nachbarschaft anrücken. Einen Treffpunkt gab es im ganzen Viertel nicht, auch kein Café.

Der Stadtteil wurde als Bettenstadt für die Arbeiter der Chemieindustrie geplant. Nach dem Mauerfall zerfielen die Großbetriebe und die meisten Menschen verloren ihre ­Arbeit oder gingen in Frührente. "Wer woanders hingehen konnte, ist woanders hingegangen", sagt Martin Golz. Weil so viele wegzogen, hat die Stadt die Hälfte der Plattenbauten ­abgerissen. Der Stadtteil ist dadurch auffällig grün und weitläufig. "Aber es war auch ein Nackenschlag für die, die geblieben sind."

Diakonin Michaela Herrmann, 51 Jahre, hatte den Stadtteil schon länger im Blick und fragte Golz, ob sie etwas zusammen tun könnten. Für den jungen Pfarrer eigentlich zu früh. "Ich hatte anfangs ganz schön Bammel, aber ich wusste, dass das jetzt dran ist", sagt er. Nur wie sollte er mit ihnen ins Gespräch kommen? Gemeindehaus und Kirche stehen im alten Fischerdorf Beesen, das an die Plattenbausiedlung grenzt. Von den Menschen aus der Silberhöhe kommt kaum einer dorthin. "Ich musste einen Weg finden, diese Blöcke aufzuschließen", sagt er. "Man geht da ja nicht hin und sagt: Hallo, ich bin der Pfarrer."

Am Bauwagen ist Pfarrer Golz erst mal Martin, der den Menschen zuhört und sie ernst nimmt. Das Tischgespräch kommt auf Tattoos, und ein Teenagermädchen sagt: "Ich will mir eins privat stechen lassen, sonst ist das so teuer." – "Ich hab auch mal über eins nachgedacht, aber ich hab Angst, dass es mir irgendwann nicht mehr gefällt", sagt Golz. Er würde sich vorher etwas auf ­Papier zeichnen lassen, bevor er das Tattoo ein Leben lang auf der Haut trägt. Darauf war sie noch gar nicht gekommen.

Jeder ist willkommen, der Gemeinschaft sucht

So lebensnah die Themen oft sind, manchmal spiele es dann doch eine Rolle, dass er der Pfarrer ist und nicht nur Martin. Einmal habe ein Junge zu ihm gesagt: "Eigentlich hat ein Pfarrer doch etwas anderes an." Stimmt, ­musste Golz zugeben. "Aber ich dachte, ihr würdet es komisch finden, wenn ich einen Talar trage." Großes Missverständnis. "Die Kinder dachten, dass sie es nicht wert sind, dass ich mich anders anziehe." Seitdem trage er zu allen Feierlichkeiten Talar. Und viele Kinder machten sich auch extra chic. Zum Beispiel bei der Pfingstwallfahrt oder bei der Hundesegnung, was sich einige gewünscht hatten. Neben den Festen haben Gebete, Lieder und Segnungen ihren festen Platz rund um den Bauwagen gefunden.

Als der Hunger gestillt ist und die Neuigkeiten ausgetauscht sind, stehen die Ersten auf, um sich Inlineskates, einen Fußball oder Federballschläger auszuleihen. Dann wird es laut. Ein Mädchen und ein Junge kommen heran, das Mädchen schreit schon von weitem. "Bist du bescheuert, mich anzuzeigen? Ich hab dein Handy nicht geklaut!", sagt es zu einer Freundin der jungen Af­ghanin. "Doch, hast du", entgegnet sie. "Halt die Fresse!", sagt das Mädchen und es sieht aus, als würde es gleich auch körperlich auf das andere Mädchen losgehen. Da ­schreitet Michaela Herrmann ein. "Solche Wörter wollen wir hier nicht hören", sagt sie mit ruhiger Stimme. Und als das nicht hilft: "Könnt ihr euch bitte woanders streiten?"

Tatsächlich verschwinden alle zusammen, um den Streit woanders auszutragen. So ­etwas passiert hier öfter. "Wir mischen uns da nicht ein", sagt Michaela Herrmann. "Unser Ansatz ist, das Gute zu gestalten und nicht das Schlechte zu bekämpfen." Manchmal seien sie aber auch überfordert. Etwa als einem Mädchen das Kopftuch heruntergerissen wurde. Mittlerweile holen sie sich dann Beratung.

Jin, 34 Jahre und gelernte Friseurin, mischt sich manchmal doch ein. Sie hilft ehrenamtlich, heißt in echt Jennifer Möbius und ist in der Silberhöhe aufgewachsen. Oft findet man sie im Bauwagen, wo sie malt, bastelt oder schnitzt. Zu Weihnachten hat sie mit den Kindern übergroße Krippenfiguren gestaltet, zu Ostern 500 Eier angemalt und zwischendurch bringt sie den Kindern bei, Bitte und Danke zu sagen. "Wenn Martin das Gehirn ist und ­Michaela das Herz, dann bin ich Hände, Füße und die große Klappe", sagt sie und grinst. Sie war 13, als die Stadt ganze Häuserblöcke abriss, und 25, als ihr Viertel dann ganz anders aussah.

Es ist nicht immer lustig, wo es bunt ist, doch die Glücksmomente summieren sich

"Hier haben viele Drogenprobleme, ich war früher nicht anders", sagt sie frei heraus. ­Ihre beiden Kinder würden deswegen auch bei ­ihren Eltern aufwachsen. Nun versucht sie, die Veränderung zu sein, die sie sich für ihr Viertel wünscht – und damit scheint es ihr sehr, sehr gut zu gehen. Ihr Sohn ist hier ein gro­ßer Fußballer, ihre Tochter liebt Inlineskaten. Aber auch die anderen Kinder machten sie glücklich. "Einmal hat ein Kind gesagt: Jin, du bist die tollste Frau der Welt." So was schreibt sie sich auf, um es nicht zu vergessen.

Der Zuspruch in der Silberhöhe und da­rüber hinaus ist mittlerweile so hoch, dass das Projekt "Man sieht sich." den 1. Publikumspreis des chrismon-Gemeindewettbewerbs mit 2370 Stimmen gewonnen hat – und dann auch noch den Jurypreis in der Kategorie ­Diakonie. "Wir haben uns beworben, weil wir jeden Euro brauchen", sagt Golz. Wegen Corona und des Ukrainekriegs ist die Stadtkasse leer, und dem Projekt wurden 20 000 Euro gekürzt.

Durch den Wettbewerb ist das Projekt noch bekannter geworden. Manchmal wird ­Martin Golz gefragt, ob die Arbeit am Bau­wagen denn auch Früchte trage. Also, ob manche Kinder den Absprung in eine andere Welt schaffen. "Aber das ist es nicht, weswegen ich ­angetreten bin", sagt der Pfarrer. "Viele ­Kinder erleben ständig Abbrüche." Plötzlich ist der Vater weg, dann gibt es einen neuen ­Vater und neue Geschwister und die sind dann vielleicht auch wieder weg. "Was die Kinder sich an ­Resilienz erarbeiten, ist eine Riesenleistung", sagt er. Aber dafür kriege niemand einen ­Orden. "Wir möchten einfach für sie da sein und ihnen ermöglichen, sich mit anderen Augen ansehen zu können."

2. Publikumspreis
Gospelkirche Stuttgart

Die Friedenskirchengemeinde in Stuttgart entwickelt sich zur Gospelkirche, was für die ­württembergische Landeskirche etwas Besonderes ist. Seit März 2023 findet zweimal im Monat statt des üblichen Sonntags­gottesdienstes ein Gospel­gottesdienst statt. Die Arbeit des Gospelchores soll weiter ­ausgebaut werden, auch durch Aktionen für Kinder und Jugend­liche. Auch diakonische und ­caritative Projekte sollen in der Gospelkirche ihren Platz finden.

3. Publikumspreis
Kirchspiel Gröningen: Kinder- und Jugendmusical "Salomé"

Der Pfarrer und ein befreundeter Musiker schreiben und komponieren das Musical und nehmen dabei auf, was die Kinder und Jugendlichen umtreibt. Dadurch hat das Stück einen direkten Bezug zu ihrem Leben. Während einer Camp­woche erarbeiten die Jugendlichen ­Szene für Szene. 2022 haben 60 Kinder und Jugendliche mitgewirkt, auch die ­Eltern, Großeltern und viele Gemeindemitglieder helfen mit, damit das Musical mehrfach aufgeführt werden kann.

Jurypreis - Kategorie Jugend
Ev. Kirchengemeinde Opladen: Historisch-politische Bildungsfahrt

Opladen Die Teamer der evangelischen Gemeinde Opladen wünschen sich historisch-politische Bildungs­fahrten nach Berlin. Dort wollen sie eine KZ-Gedenkstätte und ein Stasigefängnis besuchen, mit Zeitzeugen ­sprechen und so mehr über die deutsche Geschichte erfahren und für die Zukunft lernen. Mit dem Preisgeld wollen sie noch Referenten dazubuchen.

Jurypreis - Kategorie Gottesdienst
Ev. Kirchengemeinde Mariendorf-Süd, Berlin: Internationaler Gottesdienst ­


Alle zwei Monate wird es sonntagvormittags im Kirchraum der ­evangelischen Gemeinde Mariendorf-Süd so voll wie sonst nur an Weihnachten: Dann ist inter­nationaler Gottesdienst in englischer Sprache (mit Übersetzung), mit Gospelsängerinnen und einer ­Liturgie, die auch ungeübte Kirchgänger schnell verstehen. Das lockt Menschen an, die sonst nicht in die Gemeinde kommen, und überzeugt die treuen Gemeindemitglieder. ­Anschließend sitzt man bei Kaffee und Kuchen zusammen. Das ­Angebot gibt es seit März 2023.

Jurypreis - Kategorie Musik
St. Michael, Neubrandenburg: Musik Ensemble "Augenblick"

In der Corona-Zeit fanden ­Sophia, Laura, Juliane, Jason und Janne – fünf Azubis und Studierende – in St. Michael Möglichkeiten, wie sie trotz Lockdown im Gottesdienst singen können. Daraus ist das Ensemble "Augenblick" entstanden, weil die fünf durch ihren Gesang anderen schöne kurze Augenblicke verschaffen wollen.

Jurypreis - Kategorie Kirchenrenovierung
Ökumenische Gemeinschaft Kloster Marienfließ, Prignitz: Kirchenrecycling

Ein Taufbecken in den Müll werfen? Die ökumenische Gemeinschaft "Quellort Marienfließ" holte das ausrangierte Becken dort ab, wo man es nicht mehr brauchte, baute es in ihrem Klostergarten auf und wartete, was passiert: Nachbarn stellten Bierflaschen ­darauf ab, andere erkannten darin einen heiligen Ort und ließen sich taufen. Die Gemeinschaft will noch viel mehr aus Abrisskirchen retten: etwa alte Fenster und ­daraus Kapellen für ihren Pilgerweg bauen.

Jurypreis - Kategorie Öffentlichkeitsarbeit
Ev. Kirchengemeinde Berlin-Blankenburg: Engelsbote 3-D

Die evangelische Gemeinde in Blankenburg möchte einen 3-D-Scan des barocken Tauf­engels ihrer Kirche herstellen lassen. Der Scan dient als ­Vorlage für 3-D-Drucke original­getreuer Miniaturengel. Diese können an ­Spender und Förderer der ­Gemeinde verschenkt werden oder an Gemeindemitglieder bei Taufen und Konfirmationen.

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Infobox

Die Jury

Enno Haaks (Pfarrer und Generalsekretär des Gustav-Adolf-Werks, Diasporawerk der EKD Gustav-Adolf Werk e.V.)

Dr. Catharina Hasenclever (Geschäftsführerin der Stiftung KiBa und der Stiftung Orgelklang)

Claudia Keller (Stellvertretende Chefredakteurin von chrismon)

Elke König (Dipl. Pädagogin, Seminarleiterin i. R., Vizepräses der 13. Synode der EKD und Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland)

Stefan Lotz (Verantwortlicher Redakteur von Gemeindebrief - Magazin für Öffentlichkeitsarbeit)

Dr. Ekkehard Thiesler (Vorstandsvorsitzender der Bank für Kirche und Diakonie eG – KD-Bank)

Partner
KD-Bank – Die Bank für Kirche und Diakonie
Gustav-Adolf- Werk (GAW)
Gemeindebrief – Magazin für Öffentlichkeitsarbeit

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