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„Ich nehme mal an, dass unsere Eltern alle Akademiker sind.“ Das war einer der ersten Sätze, die ich in einem der Kurse in meinem Journalismus-Master in München gehört hatte. Am liebsten hätte ich lautstark widersprochen, doch Scham und Unsicherheit ließen mich schweigen.
Denn in dieser Situation war ich in München doppelt nicht-zugehörig: Aus einer Nichtakademikerfamilie und dann noch ostdeutsch.
Dabei ärgerte ich mich über diese Aussage, die vielleicht aus reiner Unwissenheit und einer unglücklichen Verallgemeinerung ausgesprochen wurde, aber trotzdem verletzte. Und für mich das elitäre Bild der „Akademiker*innen unter sich“ ein Stück weiter zeichnete, das ich so eigentlich nur vom Hörensagen kannte: in der Regel weiß, und aus der Mittelschicht stammend.
Keine Jugendweihe? Dann eben auch kein Abi!
Noch etwas kam in mir bei der Aussage hoch: Die Wut auf den Staat, in der meine Mutter Christiane aufwuchs. Denn der verbaute ihr den Weg in die Erweiterte Oberschule, dem Gymnasium der DDR. Und damit auch den Weg in ein Studium. Doch nicht nur ihr, sondern auch all ihren Geschwistern. Die ausschlaggebenden Gründe: Nie mit einem blauen Halstuch bei den Pionieren, kein FDJ-Mitglied, keine Jugendweihe.
Dazu Konfirmation und meine Großeltern, die nie wählen gingen, weil „es doch keine echten Wahlen sind“. Besonders die sozialistische Jugendweihe mit 14 Jahren war in den Augen meines Großvaters eher Ausdruck einer politischen Entmündigung durch die SED. Aus einer religiösen Überzeugung und Geradlinigkeit heraus blieb er in der Entscheidung beharrlich, die Kinder nur konfirmieren zu lassen. Mich als Enkelin macht so viel Stärke zwar stolz, aber in seltenen Momenten empfand ich es auch als Sturheit.
Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele. Angela Merkel wird da gerne erwähnt, denn „die war doch schließlich nicht in der SED und hat trotzdem studiert und Karriere gemacht“. Mag sein, aber auch sie war in der FDJ aktiv und verhielt sich als Kulturreferentin wohl eher linientreu. Die FDJ hatte viel mit einem Gemeinschaftsgefühl zu tun. Und wer nicht in dieser Jugendorganisation war, musste eben mit Nachteilen und dem Ausschluss aus dieser Gemeinschaft rechnen. Ich kenne etliche solcher Beispiele aus dem Bekanntenkreis meiner Familie.
Dabei gehörten meine Mutter und besonders ihre zwei Schwestern zu den Klassenbesten. Leistung spielte an der Stelle dann doch keine Rolle in der DDR. Grundsätzlich war nur einem kleinen Teil der Schüler*innen der Wechsel auf die Erweiterte Oberschule nach der zehnten Klasse vorbehalten. In den 1980er Jahren waren es rund 10 Prozent eines Jahrgangs – entgegen dem landläufigen Mythos, in der DDR hätten alle einfach Abitur ablegen und studieren können. Richtig ist, dass sich parteiloyale Bewerber*innen trotz schlechter Noten oft für ein Studium qualifizierten.
Ganz klar ungerecht, aber Bildung war ein effektives Instrument zur Disziplinierung.
Bildungsnachteil ermutigt uns Kinder
Meine Mutter absolvierte deshalb eine Lehre als Konditorin, ihre Schwestern und ein Bruder Krankenpflegeausbildungen am Diakonissen-Krankenhaus in Dresden. Nach der Wende erhielt meine Mutter im Rehabilitierungsverfahren das Angebot, ihr Abitur an einer Abendschule in einer anderen Stadt nachzuholen – als Ausgleich der beruflichen Benachteiligungen. Da war sie über 30, mit drei Kindern etliche Jahre zuhause, verfügte über kein eigenes Auto und damit war der Zug auch schon abgefahren. Seitens der Bundesrepublik nett gemeint, aber verpasste Bildungschancen kann man nicht einfach so mal eben nachholen.
Für meine Mutter ist das Thema heute abgehakt, ändern kann sie es schließlich nicht. Ihr eigener verbauter Bildungsweg hat meine Mutter nach der Wende aber elementar darin bestärkt, uns Kinder in allen Vorhaben bestmöglich zu unterstützen - trotz begrenzter finanzieller Ressourcen. Und sie ermutigt uns auch heute noch, alle Chancen, die sich bieten, wahrzunehmen – das Abitur ablegen, etwas Spannendes studieren, einfach wegziehen. Oder in andere Länder reisen und dort sogar leben. Heute ist es egal, ob ich politisch aktiv bin oder mich öffentlich als religiös bezeichne. Mir stehen die Türen offen.
Für diesen Blick auf das Leben bin ich ihr tatsächlich dankbar, weil Bildung für mich damit auch einen anderen Stellenwert erhält. Meine Wut auf den einstigen Staat, in dem ich nie gelebt habe, bleibt trotzdem. Und auf die Annahme, alle Journalist*innen hätten doch Akademiker-Eltern.