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Auch Kirchenmusik hat soziale Aufgaben und Möglichkeiten
Die Debatte um Wohlstand und Armut betrifft auch die kirchliche Kulturarbeit, nicht zuletzt die Kirchenmusik. Ist sie nur etwas für das besserverdienende Bildungsbürgertum? Das gute Beispiel der Luther-Kirche in Spandau zeigt, wie es gehen kann.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
12.01.2023

In diesem kalten, dunklen, sorgenvollen Winter wird wieder intensiv über soziale Gerechtigkeit diskutiert. Das geht auch die Kirche und ihre Kultur etwas an. Zum Beispiel: Ist die Entlohnung in der Kirchenmusik fair? Aber auch: Haben Menschen mit weniger Geld Zugang zu Konzerten? Natürlich gibt es keine flinken Antworten. Um halbwegs anständige Honorare zu zahlen, müssen Tickets verkauft werden. Diese sind günstiger als die meisten staatlich subventionierten Konzertkarten. Auch haben einige Kirchengemeinden Regelungen für Menschen, die Transferleistungen beziehen.

Andererseits haftet gerade der klassischen Kirchenmusik das Image des Hochkulturell-Bildungsbürgerlichen an. Zu Recht, aber auch zu Unrecht. Denn man kann umgekehrt fragen, warum Bach und Mendelssohn nicht auch etwas für Menschen mit wenig Geld sein sollten.

Wer wollte behaupten, dass sie großartige Musik nicht verstehen und genießen könnten? Würde irgendjemand ernsthaft meinen, dass für Menschen unterhalb einer gewissen finanziellen Schwelle nur noch „Die Flippers“ und Florian Silbereisen im Angebot sein sollen? Es geht also nicht um E oder U, sondern um die Zugänglichkeit der Kirchenmusik.

Da empfiehlt sich ein Besuch der Luther-Kirche in Berlin-Spandau. Sie liegt in einem Stadtteil mit erheblichen sozialen Herausforderungen. Hier gibt es Armut. Integrationsarbeit ist zu leisten. Die Kirchengemeinde trägt dazu bei. Viele der sozialen Initiativen im Kiez sind von ihr mitgegründet worden, sie ist gut vernetzt in der Gemeinwesenarbeit. Um selbst überlebensfähig zu bleiben, hat sie sich erheblich verändert.

Kirchliche Sozialarbeit hat eben auch eine kulturelle Seite

Große Teile der Kirche – eine historistische Burg von 1896 – wurden in Wohnungen verwandelt, und der Gottesdienstraum wurde erheblich verkleinert (Umbau von 1994 bis 1997). Das Gemeindehaus wurde erst kürzlich in ein Stadtteilhaus verwandelt. Genau hier nun kann man erfahren, dass kirchliche Sozialarbeit auch eine kulturelle Seite haben kann, vielleicht sogar muss. Das zeigt nicht zuletzt die neue, 2015 eingeweihte Orgel.

Samstag nachmittags um 15h. Orgelwinter in der Spandauer Luther-Kirche, jeden Samstag in der zweiten Jahreshälfte: eine gute halbe Stunde Orgelmusik, dazu ein Psalm, ein Vaterunser, ein Segen, danach Kaffee und Kuchen. Alles umsonst, aber nicht wertlos. Der Kirchraum ist erfreulich gut gefüllt. Ganz unterschiedliche Menschen aus dem Stadtteil sind gekommen. Ich merke, was für ein schöner Raum durch die Verkleinerung entstanden ist. Alles ist jetzt angemessen dimensioniert. Man sitzt beieinander und hat doch Freiheit, Höhe und Weite. Vor allem sitzt man direkt vor der Orgel, die gleich hinter dem Altar steht. Ob das gut gehen kann? Wird es nicht gleich sehr laut und dröhnend?

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Der Organist setzt sich an das Instrument. Heute ist es Dimitri Dimitrov, ein Berliner Student der Kirchenmusik. Er zeigt, was diese Orgel in dieser Kirche auszeichnet. Sie ist kein Machtinstrument. Sie besitzt eine eigentümliche Menschenfreundlichkeit. Warm wirkt sie und belebend. Sie spricht an, bringt ins Klingen. Auf ihr kann man auch Heutiges und Populäres spielen, zum Beispiel beliebte Filmmusiken. Aber auch das klassische Erbe wird auf ihr lebendig und zugänglich. Dimitrov spielt einen ernsten Bach, eine moderne Adaption eines Weihnachtsthemas, einen romantischen Schuhmann, einen tanzenden Vivaldi. Es ist Orgelmusik auf sehr hohem Niveau, aber ohne jede Ab- und Ausgrenzung – einfach ein Geschenk an alle, die aus dem Stadtteil gekommen sind. Auch für mich, der ich zu Besuch gekommen bin. Danach gibt es Kaffee und Kuchen im „Luther-Treff“, einem Gemeinderaum, den man in der ehemaligen Eingangshalle eingerichtet hat.

Eine gute halbe Stunde schöne, ansprechende, musikalisch-geistlich gehaltvolle Musik – das ist sehr viel. Vor allem, wenn man dies jeden Samstag mit wechselnden Organistinnen und Organisten veranstaltet. Dazu braucht es eine engagierte Kirchengemeinde, eine experimentierfreudige Kirchenmusik, vor allem engagierte Ehrenamtliche, die alles konzipieren und organisieren (vielen Dank, lieber Martin Kückes!), nicht zuletzt ein paar Spenden. Dann kann etwas entstehen, das die soziale Seite des Kulturellen (und umgekehrt) zeigt: Auch ein Orgelkonzert kann ein Werk der Barmherzigkeit sein, wenn man mitten in einem Brennpunktkiez eine solche Perle – mit 1.572 Pfeifen – hat.

P.S.: „Kirche als Schule der Demokratie“ – über Protestantismus und Politik, den Kampf gegen die Diktatur und für die Demokratie spreche ich in meinem Podcast „Draußen mit Claussen“ mit Rainer Eppelmann.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur