Ich glaub an mich und überlebe? Blödsinn
T'obi Wahn/Photocase
Ich glaub an mich und überlebe? Blödsinn
Russische Deserteure brauchen Hilfe und keine Aufrufe zum Heldentum. Im Krieg und im Kampf gegen Krebs gibt es nun mal übermächtige Gegner, das zu leugnen nutzt niemandem.
privat
22.11.2022

„Sie können alles schaffen mit dem Glauben an sich selbst“

Diesen Werbespruch im Fenster einer Versicherungsagentur bei mir um die Ecke finde ich bodenlos. Eine Unverschämtheit gegenüber allen Menschen in der Ukraine, die einem kalten und brutalen Winter entgegengehen.

Eine Unverschämtheit gegenüber allen, die kämpfen und keine Chance haben; weil Waffen stärker sind, Diktatoren und ihre Helfershelfer gnadenlos und Fluchtwege so gefährlich, dass ganze Familien ums Leben kommen.

Und nicht zuletzt ist dieser flotte Spruch eine Unverschämtheit mir gegenüber. Wie bitte sehr stellt sich die Versicherung denn meinen Kampf gegen Krebs vor? Was soll ich tun, was soll ich glauben, um zu gewinnen?

Meine Krankheit macht mich nicht zur Heldin

Mit solchen Siegermythen kann ich nichts anfangen. Seit meiner Studienzeit lebe ich mit der Überzeugung von Bert Brecht, dass das Land unglücklich ist, das Helden nötig hat. Und nun begegnen mir plötzlich vermehrt wieder Sieger und Aufrufe zu Heldentum auch jenseits der Kinderzimmer.

In einer Selbsthilfegruppe für krebserkrankte Frauen lautete eine Anrede: „Ihr starken Frauen, ihr Heldinnen…“. Macht mich die Krankheit, die ich kaum ertrage, etwa zur Heldin? Ich erlebe ich mich anders, weder tapfer noch mutig, sondern ziemlich hilflos einem übermächtigen Gegner ausgeliefert.

Ganz ähnlich, so stelle ich mir das vor, geht es russischen Deserteuren, die sich nach der Teilmobilmachung in Russland nicht an diesem verbrecherischen Angriffskrieg beteiligen wollen. Sie stehen jetzt einem mächtigen Gegner gegenüber, für den sie nicht kämpfen wollen und brauchen Zuflucht in einem anderen Land.

Diese Menschen haben meinen Respekt.

Mit offenen Armen sollten sie in Deutschland und in anderen Ländern aufgenommen werden, zumal russische Generäle anscheinend bereit sind, auf Deserteure schießen zu lassen.

Das große Glück eines normalen Alltags

Offensichtlich kann man das aber auch ganz anders sehen. Vom litauischen Außenminister Landsbergis werden russische Deserteure aufgefordert, in Russland zu bleiben und gegen das Putin-Regime zu kämpfen. Und der ukrainische Botschafter in Deutschland Makeiev kritisiert, dass die russischen Deserteure nicht aus Protest gegen den Krieg nach Deutschland kämen, sondern nur nicht sterben wollten.

Was soll falsch sein an diesem Wunsch, einfach nicht sterben zu wollen?

Ich finde es ehrenwert, wenn Deserteure ähnlich wie ich eher an das große Glück des Alltags denken, vielleicht eine Familie gründen wollen, einen Garten anzulegen oder Straßenbahnschaffner werden. Und letztlich ist doch jeder russische Soldat, der nicht schießt, eine Bedrohung weniger.

Stattdessen wird Heldentum und Siegermentalität eingefordert. Man muss schon an übermenschliche Heldentaten glauben, um russische Deserteure alleine gegen das gesamte russische Militär, die russische Regierung und die russische Propaganda in den Kampf zu schicken, nach dem Motto:

„Sie können alles schaffen mit dem Glauben an sich selbst“

Es ist doch einfach nicht wahr, dass wir alles erreichen können, wenn wir nur fest genug daran glauben, weder bei einer Krebserkrankung noch im Krieg. Viel zu viele Menschen in der Geschichte der Menschheit sind schon einen völlig unsinnigen „Heldentod“ gestorben, weil sie Siegermythen und Heldengeschichten glaubten. Und Menschen, die eine schwere Krebserkrankung überlebt haben, sind auch erstmal keine Heldinnen, sondern vor allem Menschen, die großes Glück hatten und leben dürfen. Und das ist letztendlich einfach das Wichtigste.

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Ich kann Frau Lackus nur voll und ganz zustimmen: Wie oft habe ich mich schon darüber geärgert, dass uns in der Werbung, aber auch in unzähligen " Selbsthilfe"- Büchern, Artikeln, Websites etc. ( da ist es wieder: sich selbst helfen, dann klappt das schon alles wie von selbst!) weisgemacht werden soll, wenn wir uns nur anstrengen und "an uns selbst glauben" , dann könnten wir alles erreichen, privat, beruflich und gesundheitlich. Dabei bin ich durchaus der Meinung, dass Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen erstrebenswert und wertvoll sind, aber es stimmt eben nicht, dass man ALLES erreichen kann, wenn man es nur selbst will. Im Umkehrschluss ist dies dann nämlich ein Hohn für diejenigen, die der Hilfe bedürfen, die eben nicht alleine aus einer Situation herausfinden, schwer krank oder depressiv sind oder mit Schicksalsschlägen umgehen müssen: sie haben dann das Gefühl, dass sie sich nur nicht genügend angestrengt haben, nicht "gut" genug sind, unfähig und es deshalb selbst "verdient" haben, dass es ihnen schlecht geht. Wo bleibt da so etwas wie Hoffnung und Vertrauen auf das, was größer ist als wir, auch gegen die bedrückende Wirklichkeit? Wo bleibt " Barmherzigkeit", wenn ich mir alles nur selbst "verdienen " muss, nur genug an mich selber "glauben"? Und wie furchtbar anstrengend muss es sein, immer und bei allem nur zu denken, dass man alles alleine schaffen muss, dass da keine Hilfe ist, kein "Netz", in das ich fallen darf, nur immer ich selbst? Diese Einstellung macht die Welt kälter und härter, denn die Schwachen, die Hilfsbedürftigen, die, die es nicht alleine schaffen, kommen darin nicht mehr vor. Das allerdings wäre eine sehr bedrückende Perspektive für die Zukunft.

Kolumne

Karin Lackus

Als Klinikseelsorgerin und Krebspatientin kannte Pfarrerin Karin Lackus den medizinischen Alltag unterschiedlichen Perspektiven und hat darüber gebloggt. Ende April 2023 ist Karin Lackus gestorben. Der Blog bleibt online, und in Absprache mit den Angehörigen haben wir im Blog noch einige Texte veröffentlicht, die Karin Lackus vor ihrem Tod verfasst hat.