Menschen in Berlin demonstrieren für Frauenrechte in Iran und Afghanistan
Menschen in Berlin demonstrieren für Frauenrechte in Iran und Afghanistan
Husaini
Wer wird unsere Schreie hören?
Es ist an der Zeit, die Helden in uns selbst zu wecken und aufzuhören, auf einen Anführer zu warten, der uns rettet
Tahora HusainiPrivat
18.10.2022

Die Geschichte der Menschheit ist gespickt mit großen Helden und Anführern, die durch Kriege und große Revolutionen Regimes verändert haben. Das einfache Volk hat auf einen Retter und einen Helden gewartet, der aus der Dunkelheit kommt und den Schleier der Unterdrückung mit dem Schwert der Gerechtigkeit zerreißt, die Menschen zum Licht führt und große Versprechungen für ein besseres Leben macht.

Helden, die, nachdem sie die Macht ergriffen hatten, dasselbe Schwert benutzten, um dem eigenen Volk die Kehle durchzuschneiden. Helden und Führer, die sich in Verräter verwandelten und ihre Taschen mit dem Reichtum des Volkes füllten. Sie brachten jede Stimme zum Schweigen, so gut sie konnten, damit ihre Taschen voller und ihre Paläste prächtiger wurden.

In der Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, sagte man uns, wir sollten auf jemanden warten, der kommen und uns retten würde. Einige Leute sagten, dass Mahdi, der zwölfte Imam der Schiiten, von dem man glaubt, dass er im Moment abwesend sei, kommen wird, um uns zu retten.

Wir haben auf jeden Teufel gewartet, der sich als nationaler Führer und Held bezeichnete

Sowohl Mahdi als auch Christus werden erscheinen und die Welt von all der Unterdrückung, der Armut und dem Elend befreien. so haben sie unser Gehirn trainiert, unser ganzes Leben lang auf jemanden zu warten. Wir haben auf jeden Teufel gewartet, der sich als nationaler Führer und Held bezeichnete.

Das letzte Mal, dass das iranische Volk an den Führer geglaubt hat, war im Jahr 2009. Eine riesige Bewegung, die Grüne Bewegung, eine der größten Demonstrationen im Iran, wurde unterdrückt und ihr Anführer in seine Wohnung gesperrt – bis heute. Wenn der Anführer der wichtigste Bestandteil einer Bewegung ist, wird die Bewegung durch seine Abwesenheit allmählich ausgelöscht.

Warum auf einen revolutionären Führer warten?

Aber braucht es immer einen Anführer? Sind der Zweck und der Grund der Bewegung nicht wichtiger als eine Person? Warum sollten wir auf die revolutionären Reden eines Führers warten, wenn ein ganzes Volk bereits alles zu sagen hat? Warum nicht dem Volk das Mikrofon geben, anstatt nur einer Person?

Vielleicht haben diese Fragen das iranische Volk viele Jahre schon beschäftigt, bis es schließlich aufstand und auf die Straße ging – ohne Angst. Dieses Mal wurde ihnen nicht ein Podium gegeben, sondern von all jenen eingenommen, die gelitten haben und sich einen freien Iran wünschen. 

So haben die Frauen beschlossen allein aufzustehen und nicht länger auf einen Mann zu warten, der sie rettet

Das Gleiche gilt für Afghanistan. Frauen haben lange darauf gewartet, dass ihre Ehemänner, Brüder und Söhne, aber auch die Männer an der Macht ihre Grundrechte anerkennen. Im Iran herrschte 43 Jahre lang ein einziges Regime. Afghanistan hat in diesen 43 Jahren fünf verschiedene Regimes erlebt, in denen die Frauen immer die ersten Opfer waren. So haben die Frauen beschlossen allein aufzustehen und nicht länger auf einen Mann zu warten, der sie rettet.

Die Worte einer Frau in Mazar-e-Sharif, die ausgepeitscht wurde, weil sie ihr Gesicht nicht bedeckte, schmerzen mich immer noch: "Die Peitschenhiebe der Taliban waren nicht so schmerzhaft wie das Schweigen meines Mannes, der vor mir stand und einfach nur zusah, wie ich erniedrigt und gefoltert wurde". 

Weltweiter Protest gegen den Völkermord an den Hazaras

Unser Volk der Hazara, das seit mehr als 130 Jahren aufgrund seiner Herkunft und Religion getötet wird, hat immer zu seinen Führern geschaut, die es im Tausch gegen Stellung und Geld wieder und wieder verkauft haben.

Am 8. und 9. Oktober protestierten die Afghan*innen in 100 Städten auf der ganzen Welt gegen den Völkermord an den Hazaras. Die meisten Ethnien Afghanistans beteiligten sich an der Demonstration und der Tweet erreichte mehr als zehn Millionen Menschen.

Wer wird unsere Schreie hören?

In der letzten Woche haben Iraner und Afghanen fast jeden Tag in verschiedenen Ecken Berlins gemeinsam für Freiheit und Gleichheit demonstriert. Auch, wenn die Solidarität allmählich Gestalt annimmt, denke ich mir immer noch, an wen richten wir uns mit unseren Parolen?

An die westlichen Politiker, die sich nie für unsere Situation interessiert haben und denen es immer nur um ihre Interessen ging? Die Amerikaner, die in Afghanistan einmarschiert sind, um die afghanische Frau zu befreien und uns am Ende doch wieder in die Hände von Terroristen gegeben haben?

Daran erinnern, dass niemand außer uns selbst der Retter und Held ist

Ich versuche, positiv zu denken und rufe wieder #Frauen-Leben-Freiheit #StopHazaraGenocide und wieder schweifen meine Gedanken ab und ich zweifle an allem. Vielleicht, sind all diese Rufe nur dazu da, unsere Frustration loszuwerden.

Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, unsere Stimmen zu erheben. Wir alle! Eine Stimme an die Menschen auf der Welt, um sie aufzuwecken und sie daran zu erinnern, in was für einer Welt wir leben und um ihnen zu sagen, dass niemand außer uns selbst der Retter und Held ist.

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Kolumne

Tahora Husaini

Die afghanische Frauenrechtlerin Tahora Husaini hat über ein Jahr lang in ihrer Kolumne über ihr Leben in Deutschland, das Schicksal ihrer Landsleute in der alten Heimat und das einstige Leben in Kabul geschrieben. Die letzte Folge der Kolumne erschien im Mai 2023