Ja, ich verfolge die Spiele!
Mein Vater war DFB-Schiedsrichter. Ich bin seit meinem zweiten Lebensjahr auf den Fußballplatz mitgeschleppt worden und habe den Papa in seinem schwarzen Schiri-Dress bewundert. Er und ich, dazu meine Mutter, wir haben keine Fußball-WM jemals verpasst. Auch wenn wir nirgendwo hinfahren konnten. Ich selbst werde also auch das Turnier in Katar am Fernseher verfolgen.
Ich schaue die Spiele der Fußball-WM auch deswegen, weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk sie überträgt. Von dem erwarte ich trotz aller Krisen Qualitätsjournalismus – einen, der Schattenseiten sichtbar und durch saubere Informationen Widerstand möglich macht. Er kann eine umfassende Berichterstattung liefern, die nichts auslässt von den Problemen, die andere aus schlechten Gründen verschweigen.
Susanne Breit-Keßler
Gegen die Austragung in Katar spricht vieles – so, wie vieles gegen die diesjährigen Olympischen Spiele in Peking gesprochen hat. Die Geschichte großer globaler Sportereignisse zu reflektieren, bedeutet, eine ganze Menge an Bestechung, Korruption, fragwürdiger Geschäftspraktiken und übler politischer Verhältnisse bis hin zu Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Da gibt es auch keine Ausreden.
Zugleich sind da die Fußballer mit ihrer Freude am Spiel und ihrem Können. Sie wollen mit großer Leidenschaft sportlich-fair für eigenen Ruhm und für ihr Heimatland kämpfen. Ich freue mich auf bislang unentdeckte Talente aus vielen Nationen. Darauf, dass Spieler und Zuschauende mit Regenbogenfahnen, bunten Armbinden und Kniefällen sichtbare Zeichen setzen werden für eine Welt, in der die Menschenwürde geachtet wird.
Gesten, die allesamt der ganzen Welt zeigen: "United we stand" – wir gehören zusammen, als Menschen gleich welcher Herkunft, Religion und Lebensform. Das wird nicht zu übersehen sein. Denn: "Divided we fall" – wenn wir nicht zusammenhalten, scheitern wir. Das gilt für die ganze menschliche Gemeinschaft. Ein Staat ändert sich deswegen nicht von heute auf morgen. Aber der Sport kann die Völker neu zusammenbringen.
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Diese WM muss man boykottieren!
Am 21. Juli ist Uwe Seeler, Ehrenspielführer der Nationalmannschaft, gestorben. Fußballfans auf der ganzen Welt trauerten um ihn. Seeler war ein Sportsmann, ein Ehrenmann.
Das Sportfoto des vorigen Jahrhunderts zeigt Seeler nach der Niederlage im WM-Finale gegen England, das durch das berühmte "Wembley-Tor" - das wohl keines war - entschieden wurde. Seeler hätte lamentieren können. Stattdessen führte er seine Mannschaft zur Ehrentribüne. In der Begründung der Jury hieß es vor 22 Jahren: "Das Bild zeigt aufrechte Verlierer, die gebeugt waren, aber still und ohne Hass und Hader das Spielfeld verlassen."
Nils Husmann
Diese Größe! Dieser Sportsgeist fehlt der Weltmeisterschaft in Katar von Anfang an. Dass sie im Golf-Emirat stattfindet, ist korrupten Funktionären geschuldet; die Beweise sind erdrückend. Über 6500 Wanderarbeiter aus anderen Staaten sind zwischen 2010 und 2020 in Katar gestorben - manche bei Unfällen, als sie die Stadien bauten, unter unwürdigen Bedingungen. Andere unter ungeklärten Umständen. Das Gastgeberland Katar ist eine Monarchie, die keine Opposition duldet. Homosexualität gilt dem WM-Botschafter Katars als "geistiger Schaden"; Frauenrechte werden missachtet, Gleichberechtigung ist ein Fremdwort.
Es ist naiv zu glauben, dass internationale Sportereignisse die Demokratie und Völkerverständigung befördern. Die Fußball-WM 2018 fand in Russland statt. Vier Jahre später zwingt Putins Regime junge Männer in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch Olympia in China hat die Situation Oppositioneller und der Uiguren um keinen Deut verbessert. Katar wird nach dem Finale ebenfalls das sein, was es vorher schon war: ein Unrechtsstaat.
Diese Weltmeisterschaft ist eine Schande, auch weil sich kaum Spieler kritisch zu Wort melden. Ja, für viele ist es ein Traum, eine Weltmeisterschaft zu spielen. Auf sie zu verzichten, wäre ein riesiger Verlust. Aber was sportliche Größe heißt, könnten sie von Uwe Seeler lernen.
Ich hoffe, dass viele Fans kein einziges Spiel schauen. Dann werden sich Sponsoren dreimal überlegen, ob sie nicht doch auf mehr Fairness drängen sollten. Eine andere Sprache als Geld versteht der Fußball nicht mehr. Leider.